Ein weißes Land
plötzlich von sich, und ich fand mich auf einem leeren Stück Asphalt wieder. Ich rollte mich herum, so dass ich die Meute im Rücken hatte. Noch immer erwartete ich ihre Tritte, doch plötzlich packte mich eine Hand am Kragen. Wieder fielen Schüsse, und das Geschrei veränderte sich. Die ersten waren getroffen worden, klagende Rufe erschollen.
Die Menschen flohen in die Gassen zurück, aus denen sie gekommen waren. Ich wollte aufstehen, wurde jedoch daran gehindert. Jemand drückte meine Schultern zu Boden, Hände tasteten meinen Körper ab, bis ich mich schließlich heftig dagegen wehrte. Ich schlug um mich und entwand mich mühsam dem Griff, der sich nicht lockern wollte. Der Mann, neben dem ich mich aufsetzte, hatte ein so knochiges Gesicht, dass selbst sein dichter Bart die vielen Höcker und Buckel darin nicht verbergen konnte. Eines seiner Augen war blind und blass wie Milchglas. Zudem fehlten ihm so viele Zähne, dass sein Lachen erschreckend wirkte.
»Bist du getroffen worden?«, fragte er und wies auf meinen Kopf.
Ich verneinte und wischte mir die Reste der Tomate von der Stirn. Inzwischen waren meine Lippen angeschwollen, ich hatte Mühe zu antworten.
»Was ist mit dir?« Der Mann senkte den Kopf, um mir ins Gesicht zu sehen, und stieß mir dabei die Faust gegen die Schulter. »Wie heißt du?«
Ich sagte es ihm, dabei aber konnte ich beobachten, wie drei andere Männer einzelne der Fliehenden packten und zu Fall brachten. Sie zerrten die Unglücklichen hinter einen der Mauerreste, von denen es an diesem Ende des Platzes viele gab.
»Was tun die da?«
Der Mann lachte so heftig auf, dass ich zurückschreckte. »Gehst noch zur Schule, he?«
Plötzlich packte er mit einer Hand meinen Hals und nahm mir dabei fast den Atem. Er erhob sich und riss mich mit sich. Ich umklammerte sein Handgelenk, doch der Griff war so ungeheuer stark, niemand hätte ihn lösen können. Erst bei den anderen ließ er mich los. Noch immer war der Lärm der zerschlagenen Demonstration um uns, doch hatte er sich verteilt, war zerrissen worden und schwebte in Fetzen umher.
Ich war gebannt vom Anblick der Opfer, die hier am Boden lagen und um ihr Leben flehten. Jeder fühlte die Klinge eines Dolches an seinem Hals, gerade fest genug, die Haut zu ritzen, jeder zitterte und schwitzte bei dem Versuch, vollkommen still zu liegen.
Die Diebe jedoch ließen sich Zeit. Sorgfältig durchsuchten sie alle Taschen und tasteten die Körper ab. Sie unterhielten sich dabei und machten Witze, als verrichteten sie eine gewöhnliche Arbeit. Auf ein geheimes Kommando hin zog der eine den Dolch zurück, während der andere sein Opfer mit einem Tritt entließ. Vereinzelte Schüsse fielen, doch das störte die Bande nicht. Einer kam herüber und zeigte dem hässlichen Mann seine Beute. Ich wartete auf einen günstigen Moment für die Flucht, aber dann wurde ich vom Gespräch der beiden aufgeschreckt. Mehrmals nannte der Dieb den hässlichen Mann beim Namen:
»Malik«.
8.
D er Kletterer fühlte meinen Blick auf sich ruhen und wurde aufmerksam. Langsam kam er zu mir herüber, sein von Buckeln verformtes Gesicht glättete sich etwas.
»Was ist? Warum schaust du mich an?«
»Ich weiß nicht, hat nichts zu bedeuten.«
»Du lügst. Kennen wir uns von früher?« Malik musterte mich argwöhnisch.
Angestrengt versuchte ich mich zu entsinnen, ob wir uns damals in der Gefängniszelle angeschaut hatten. Ich wusste, dass es nicht so war, und doch ließ mich der Blick des anderen daran zweifeln. Ich schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher? Du kommst mir bekannt vor.«
Er winkte einen der Diebe heran, der seinem Opfer gerade eine Fingerkuppe abgeschnitten hatte; der ältere Mann kroch durch den Sand davon und quiekte wie ein geschlagenes Kind.
»Was hast du gemacht, Abdel? Wir sind zum Stehlen hier«, sagte Malik aufgebracht. »Habe ich dir gesagt, du sollst jemandem etwas abschneiden?«
»Er hat nach mir geschlagen und mich gekratzt, hier, am Hals.«
»Gut, gut. Komm her. Kennst du den hier?«
Abdel patschte mir ins Gesicht, bis er es gut sehen konnte, und verneinte.
»Du bist ihm noch nie begegnet? Bist du sicher?«
»Ich bin sicher.«
»Gut. Mach, was du eben getan hast, mit ihm.«
Noch ehe ich recht begriffen hatte, packte Abdel meine linke Hand und legte die Messerklinge an den kleinen Finger.
»Halt«, rief Malik, »nicht den Finger, nimm das Auge – aber warte noch.«
Die Klinge lag auf meiner Wange, verschwommen und dunkel sah ich die
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