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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Öffnung der Märkte, global orientieren. Eine Geschichte der Herrnhuter und ihrer weltweiten Missionsarbeit sei in Vorbereitung. Nun, nach dem Debakel der materialistischen Lehre, dürste die Menschheit nach religiöser Sinngebung. »Unsere Stunde!« rief er. Als der Sohn ging und nur einen Verlagsprospekt zurückließ, sagte Theo Wuttke zu seiner Frau: »Der ist uns, glaube ich, auch verloren. Im Grunde steht man zu seinen Kindern nicht anders als zu anderen Menschen. Da helfen keine Erziehungskunststücke. Na, vielleicht rappelt er sich doch noch und verlegt seines alten Vaters Vorträge, gehalten in schwieriger Zeit. Bin mir aber nicht sicher, wenn ich meinen Herrn Sohn so selbstgerecht daherreden höre. Was heißt hier Unrechtsstaat! Innerhalb dieser Welt der Mängel lebten wir in einer kommoden Diktatur. Glaub mir, Emilie, da drüben, ob nun in Wuppertal oder Bonn, wird auch nur mit Wasser gekocht.« Emmi weinte eine halbe Stunde lang, dann begann sie zu packen. Wir vermuten, daß sie das nunmehr feststehende Reiseziel allen anderen Kurorten, die Fonty erwogen haben wird, vorgezogen hat. Krummhübel im Riesengebirge, ein Städtchen, das heute, weil seit Kriegsende in polnischem Besitz, Karpacz heißt, und Karlsbad als Karlovy Vary schienen einige Erwägungen wert; jetzt, mit Westgeld, war man dort König. Nicht nur Emmi lehnte Thale am Harz ab. Bad Kissingen, Norderney und Wyk auf Föhr schieden aus Kostengründen aus. Doch darin waren sich Theo und Emmi Wuttke einig: Seeluft sollte Vorrang haben. Soviel sich im Verlauf der Wendezeit verändert haben mochte, die Ostsee hatte man noch immer in greifbarer Nähe; zudem sprachen die längere Krankheit und die anstrengenden Hochzeitsvorbereitungen für einen Aufenthalt an der Küste. Mit dem ihm verbliebenen Nachdruck war Hoftaller, der unbedingt behilflich sein wollte, der Meinung, daß sich von Fontys langjähriger Tätigkeit als Kulturbundreisender durchaus ein Anspruch auf »exquisite Ferienortlage« ableiten lasse. Er wolle sich über Beziehungen nützlich machen. Noch verfüge er über Kontakte. Und schon legte er als Beweis einen Brief auf den Küchentisch. »Habe mir erlaubt, ohne aufdringlich sein zu wollen, ein wenig vorzusorgen. Nehme an, daß auch Sie, liebe Frau Wuttke, mit diesem baltischen Capri zufrieden sein werden.« Die Nachricht kam von der Ostseeinsel Hiddensee und besagte, daß hinter der Villa Seedorn, dem Hauptmannhaus benachbart, ein Gästezimmer mit Kochgelegenheit und wohnlichem Nebenraum frei sei, gleich hinter den Buchen. Dort habe der werte Herr Wuttke, wie man sich gut erinnere, schon mehrmals übernachtet, zuletzt, nachdem er ein zahlreiches Publikum mit pikanten Hinweisen auf die Praxis der preußischen Zensur überrascht habe. Man freue sich auf das Wiedersehen. Die Nachsaison habe, wie jeder Liebhaber der Insel wisse, ihre besonderen Reize. Ohne Hoftallers verdeckte Dienstleistung zu erwähnen, schrieb die Leiterin der vielbesuchten Gedenkstätte: »Das Werk des großen Dichters wird auch diese Wendezeit überleben. So spürbar die veränderte Lage ist und so erstaunt wir feststellen, wer hier neuerdings anlandet und sich als kauffreudig zu erkennen gibt, wir bleiben weiterhin dem gemeinsamen Kulturschaffen verpflichtet. Herzlich willkommen auf unserer Insel!«
    Uns war das Hauptmannhaus eine vertraute Adresse. Oft hat man von dort aus Anfragen ans Archiv gerichtet. Nicht selten haben Mitarbeiter kurze und längere Inselferien mit Studienaufenthalten verbunden. Dort kam man auf vogelfreie Gedanken. Von dieser Trauminsel aus öffnete sich uns zumindest der Horizont. Ein Nahziel mit Fernblick. Und wie üblicherweise wir, so reisten Theo und Emmi Wuttke bis Stralsund mit der Bahn und nahmen von dort aus das Schiff.
    Von Berlin-Lichtenberg über Pasewalk. Noch hieß die Reichsbahn nicht Bundesbahn. Weil untauglich für ein schnelles Geschäft, sollte sich die Übernahme dieses Relikt aus vorsozialistischen Zeiten noch lange hinauszögern; und da der Kulturbundreisende Fonty jahrelang den Schienenweg genommen hatte, konnte er als ein Stück Reichsbahn gelten, so zurückgeblieben sah er aus, so verlangsamt und schäbig abgenutzt kam er sich vor: »Bin untauglich für schnelle Anschlüsse; das gilt auf Bahnhöfen wie in der Politik.« Weil aus Gewohnheit sparsam, reisten die Wuttkes zweiter Klasse. Der Zug kam verspätet aus Leipzig. Bis Stralsund hatten sie ein Abteil für sich. Wir hätten uns gerne dazugesetzt, waren aber indirekt

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