Ein wildes Herz
lagen.
Als sie wieder aufstand, war es, um wieder Mrs. Harrison Glass zu sein, das und nichts anderes. Ihr ganzer Hollywood-Putz, all ihre schicken Sachen blieben im Schrank, und sie verbrachte den Tag in Hauskleidern, die ihre Figur verhüllten und ihre Stellung im Haus offenbarten. Bis sie dann eines Tages, fünf Tage nachdem sie wieder aufstehen konnte und die Schwellungen zurückgegangen waren, all ihre Kleider, über denen Claudie so viele Stunden gesessen hatte, aus dem Schrank nahm – das grüne Kleid, das sie getragen hatte, als sie den Jungen aus dem Wasser gezogen hatte, all die schicken Fummel, die sie für Charlie angezogen hatte, um etwas anderes darzustellen, als sie war –, in den Garten trug, Benzin darüber goss und alles anzündete, und dann schaute sie dabei zu, wie sich der Mensch, der sie versucht
hatte zu sein, in Flammen auflöste. Sie weinte, als das alles zu Asche wurde. Ihre Kleider. Ihr anderes Ich. Wenn sie nicht das sein durfte, wovon sie geträumt hatte, was sollte sie dann sein? Wer war sie?
Warum war nicht alles so wie im Film? Warum war die Leinwand dunkel geworden? Als sie sich die Figur zurechtgelegt hatte, die sie spielte, ihr Gesicht flackernd vor dem silbrigen Bildschirm ihrer glänzenden Augen, was hatte sie da sein wollen? Die Flammen gaben ihr keine Antwort. Sie war ein ungebildetes Mädchen vom Lande, das alles, was es wusste, von Menschen gelernt hatte, die es gar nicht gab, und sie hatte Charlie Beale geliebt, so viel war klar. Und ganz kurz, einen blinden, blendenden Moment lang, hatte sie dort im Dunkeln das erlebt, worauf sie gewartet hatte.
Danach gibt es nichts mehr, dachte sie. Es gibt kein Danach.
Er war ihr ganzer Hollywoodfilm gewesen, ihr Filmstar, aber hatte sie ihn wirklich geliebt? Sie hatte sein Aussehen geliebt, wie er sich gab, wie er sich bewegte, wie er leise mit dem Jungen über irgendeinen Blödsinn lachte, den nur die beiden verstanden, wenn sie über Fische oder Vögel oder Steine oder Gott und die Welt redeten, sie hatte ihn geliebt, noch bevor er damals jenes erste Mal zu ihr kam, doch dann war er gekommen, und er war nicht mehr eines der hellen, flackernden Bilder, die sie hinter ihren Lidern sah, wenn sie des Nachts die Augen schloss und die Dunkelheit hereinließ, ihn hereinließ, damit er ihr Herz und ihre Seele stahl, dort in der Dunkelheit, in ihren Träumen. Wenn er gekommen war, dann waren da Gerüche und seine Haut und ein Mund, der überall war, und sein Gewicht machte ihr Angst, seine Hände, sein Körper, so wirklich, so fest und muskulös,
kleiner als ihr eigener, doch prallvoll mit Macht, mit Begehren, der Begierde nach ihr, einer endlosen Begierde, die kein Traum war, die nicht flackerte, die nie enden wollte, und das konnte sie nicht ertragen, konnte es nicht hinnehmen, konnte es nicht aushalten. Und so hatte sie ihm die Tür vor der Nase zugemacht, hatte das Licht gelöscht und sich im Dunkeln hingesetzt, und jeder Zoll ihrer Haut wollte jeden Zoll seiner Haut, genau wie im Film, und sie hatte ihn ausgeschlossen, den einzigen Mann aus Fleisch und Blut, den sie je gekannt hatte, das vollendetste, vor Leben strotzendste menschliche Wesen, das ihr jemals begegnet war, und sie konnte es einfach nicht aushalten.
Sie redete sich ein, dass sie es getan hatte, um ihren Eltern das Elend des Verlustes zu ersparen und ihnen etwas von der Fürsorge zurückzugeben, die sie ihr in all den Jahren hatten angedeihen lassen. Sie sagte sich, dass sie es getan hatte, weil Boaty ihn sonst umgebracht hätte. Doch irgendwo, ganz verschwommen, wusste sie, dass sie es getan hatte, weil sie die Phantasiewelt des Films in ihrem Kopf der Wirklichkeit von Charlie Beale vorzog.
Und jetzt wanderte sie in ihrem schlichten Hauskleid auf dem Anwesen ihres Mannes hin und her, verwitwet und doch noch verheiratet, und trauerte um einen Mann, den sie nie wirklich gekannt hatte.
Sie kroch ins Dickicht, legte sich auf den kühlen, herbstlichen Waldboden und berührte sich selbst, dachte daran zurück, wie seine Hände sie berührt hatten, spürte die Wellen der Lust, die sie überkamen, und dann stellte sie sich ihn wieder vor, aber diesmal als Schatten ohne Gewicht und ohne Atem, ohne Geruch oder Geräusch oder einen Hunger, der größer war als der ihre.
Sie wusste, dass sie sein Leben ruiniert hatte. So oberflächlich
war sie nicht. Doch Männer erholen sich. Sie kommen wieder auf die Beine. Er war vierzig Jahre alt und von einem Begehren und Verlangen
Weitere Kostenlose Bücher