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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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mit ihrer Wärme und ihrer Kurzatmigkeit und noch etwas anderem, das er nicht benennen konnte, etwas an der Art, wie sie aussahen, als hätten sie auf etwas gewartet, und dieses etwas, auf das sie so lange gewartet hatten, sei endlich eingetroffen, und dann gingen sie nach oben und ließen ihn allein, um  – wie er sich vorstellte  – über Erwachsenendinge zu reden, Dinge, die ein Junge nicht kennen und nicht verstehen würde. Manchmal hatte Sam das Gefühl, das, worauf sie so lange gewartet hatten, sei er, und das bereitete ihm ein warmes Gefühl im Herzen.
    Sie ließen ihn allein, und sie ließen ihn allein mit Büchern und Plätzchen und einem Hund, doch Anweisungen gaben sie ihm nicht, und so wusste er manchmal nicht, wie er die Zeit verbringen sollte. Zuerst versuchte er zu lesen, herauszufinden, was für Wörter da standen, oder er saß auf einem der Schaukelstühle auf der Veranda, während Jackie im Garten herumrannte und Eichhörnchen jagte.
    Er dachte an seine Mutter und seinen Vater. Er dachte daran, dass sie ihn nie länger als fünf Minuten allein ließen, und dass sie immer bei ihm waren, um ihn zum Lachen zu bringen oder ihm etwas zu erklären, ihm eine Frage zu beantworten, die ihm gerade erst in den Sinn gekommen war, denn er konnte nicht genug davon bekommen, zu hören, wie bestimmte Dinge funktionierten, woher die Stimmen aus dem Radio kamen, wer diese Leute waren und wie sie lebten. Und wo das Licht herkam, wenn es abends dunkel wurde.
    Und er dachte an Charlie und Sylvan. Er empfand etwas für sie, das er nicht benennen konnte, etwas Schönes, aber er hätte nicht sagen können, was es war. Er fühlte sich sicher. Nichts Schlimmes konnte passieren, wenn Charlie da war;
selbst wenn es in einem Teil des Hauses war, in dem Sam nicht erwünscht war. Charlie war da, seine große Hand, sein kurzer, scharfer Pfiff, mit dem er Jackie aus dem Garten rief und den er versprochen hatte, Sam eines Tages beizubringen. Diesen Pfiff wollte er unbedingt lernen.
    Es gab so viel, was Sam wissen wollte. Er wusste nicht mehr, wann es angefangen hatte, aber irgendwann waren die Dinge der Welt für ihn in den Mittelpunkt gerückt, und zugleich wurde alles rätselhaft. Alles funktionierte irgendwie, aber er wusste nicht wie, und seine Mutter und sein Vater setzten sich mit ihm hin und erklärten es ihm auf eine Weise, die er nicht einmal ansatzweise begriff.
    Manchmal reichte es auch zu wissen, dass sie es begriffen, auch wenn er es nicht verstand. Dann stellte er die Frage wieder und wieder, manchmal tagelang am Stück, und sein Vater sagte irgendwann: »Verdammt, Sam, das hast du mich doch schon gestern und vorgestern gefragt.« Seine Mutter machte das jedoch nie, kein einziges Mal, sondern sie zeigte ihm lieber etwas, zum Beispiel, wie das Brot ganz luftig wurde, wenn man die Hefe vorher an einem warmen Platz am Ofen gehen ließ, oder sie saß da und schaute mit ihm dem alten Käfer zu, wie er ganz langsam den Gartenweg entlang krabbelte, und sagte ihm, wie viele Beine er hatte und was er zum Abendessen verspeiste, wenn er nach Hause kam.
    »Woher komme ich?«
    Sie hatte ihn auf den Schoß genommen, weil er schon ziemlich schläfrig war.
    »Das hab ich dir doch schon gesagt.«
    »Sag es mir noch mal. Ich höre es so gern.«
    »Du kommst aus dem Himmel.«
    »Und wie bin ich dorthin gekommen?«

    »Ich bin ganz dick und schwer geworden, und dann bist du aus mir rausgeschlüpft.«
    »Wo raus?«
    »Aus meinem Bauch.«
    »Und warum bist du so dick und schwer geworden?«
    »Weil ich auf dich gewartet habe. Ich hab ganz lange auf dich gewartet. Und dein Vater auch.«
    »Hat es wehgetan?«
    »Ja, Sam. Es hat wehgetan.«
    »Lange?«
    »Nein, Liebling.«
    »Wie alt war ich da?«
    »Null Jahre warst du.«
    »Und was hast du gemacht, als ich herauskam?«
    »Ich hab ›Happy Birthday‹ für dich gesungen.«
    »Und wie alt bin ich jetzt?«
    »Sag du’s mir.«
    »Mama, ich bin fünf! Du warst auf meinem Geburtstag. Aber bald werde ich sechs. Das weißt du, oder?«
    »Na klar.«
    »Und wie viele Tage sind fünf Jahre?«
    Sie dachte eine Minute lang nach. »Eintausendachthundertfünfundzwanzig. Sechsundzwanzig. Schaltjahr.«
    »Und wie viele sind sechs?«
    Jede Frage führte zu einer neuen. Was war denn ein Schaltjahr?
    »Dreihundertfünfundsechzig mehr als fünf. Und weißt du, was an jedem dieser Tage passiert? Du gehst ins Bett. Und jetzt ist es auch wieder Zeit für dich, ins Bett zu gehen.«
    Manchmal konnte Sam lange

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