Ein Wirbelwind namens Millie (German Edition)
Wohnzimmer, ohne einen Fetzen Kleidung am Leib. Sein Vater nickte ihm zu. „Der König trägt keine Kleider.“
* * *
„Schauen Sie mal hier. Ist es nicht wunderschön?“ Das Kindermädchen der Haxtons zeigte Millicent die letzte Ausgabe von Godey’s Lady’s Book, einem Magazin für Damen der höheren Gesellschaft. „Ich liebe diese Puffärmel in den leuchtenden Farben, Sie nicht auch?“
„Sie sind wirklich sehr schön.“ Millicent klappte ihren Zeichenblock zu und stand auf. Die ganze Zeit über hatte sie Kleider abgemalt und sich Notizen über die neueste Mode gemacht. Wenn sie jetzt schon die neueste Mode kannten, würde Franks Geschäft sicher bald ein Erfolg werden. „Dürfte ich es mir vielleicht irgendwann einmal abmalen?“
„Sie dürfen es gern gleich mitnehmen, wenn Sie versprechen, es mir morgen wieder zu geben.“
Die anderen beiden Kindermädchen und zwei Dienstmädchen standen alle auf und strichen sich die Schürzen glatt. Immer wenn sie ein paar Minuten frei hatten, trafen sich die Dienstboten in dem kleinen Zimmer im Heck des Schiffes. Eine von ihnen seufzte verträumt. „Wenn ich Sie wäre, Millicent, würde ich eher ein Hochzeitskleid nähen. Mr Clark ist gut aussehend und reich.“
„Unsinn.“ Millicent legte die Zeitschrift auf ihren Zeichenblock. „Ich habe andere Pläne, wenn ich nach Amerika komme. Arthurs Kindermädchen bin ich nur auf dem Schiff.“
Das Dienstmädchen sah sie forschend an. „Pläne können sich ändern. Sie sind ja auch nicht unbedingt ein Dienstmädchen wie wir anderen – mit ihren feinen Worten und ihren schönen Sachen.“
„Lass sie in Ruhe, Jilly.“ Eine der anderen warf dem Dienstmädchen einen strengen Blick zu. „Du hast ja recht damit, dass Millie eine Dame ist. Und gerade deshalb stellt sie sicher keinem Mann nach, der noch Trauer trägt.“
„Aber er hat doch einen armen, mutterlosen Sohn. Das sind immer die, die ganz schnell wieder heiraten.“
Millicent schüttelte den Kopf. „Jilly, ich träume immer noch davon, zusammen mit meiner Schwester und ihrem Mann eine Schneiderei aufzumachen. Ich will ein Abenteuer und keinen sicheren Hafen. Wer weiß? Vielleicht wirst du eines Tages ein Kleid, das ich entworfen habe, oder einen Artikel von mir in einer dieser Zeitschriften finden.“
„Ich achte nie darauf, wer die Artikel geschrieben hat“, sagte das Dienstmädchen der Haxtons. „Ich lese sie nur. Doch von jetzt an werde ich immer nachschauen, welcher Name daruntersteht.“
„Ich möchte etwas aus mir machen.“ Millicent drückte die Zeitschrift und ihren Zeichenblock an ihre Brust und blickte in die Ferne. „Mein ganzes Leben lang musste ich nach anderer Leute Zeitplan leben. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich tun und lassen können, was ich will.“
Jilly schnaubte verächtlich. „Wenn du einen reichen Mann heiratest, wirst du nie wieder irgendetwas tun müssen. Dann hast du Dienstboten, die alles für dich tun. Ich weiß jedenfalls, dass ich diese wunderschönen Kleider lieber selbst tragen wollte, als sie für irgendjemand anderen zu nähen.“
„Natürlich würdest du das lieber“, neckte ein anderes Dienstmädchen. „Das letzte Mal, als du deine Schürze genäht hast, ist das Schürzenband gleich wieder abgefallen, als du sie dir umbinden wolltest.“
Dankbar für die Richtung, in die das Gespräch abdriftete, verabschiedete sich Millicent. Sie wollte auf keinen Fall, dass jemand dachte, sie hätte es auf Mr Clark abgesehen. Oh, natürlich stimmte es, dass er gut aussah und wohlhabend war, aber das allein sagte ja nicht viel aus. Eines Tages, wenn Gott mir einen netten gläubigen Mann schickt, der mich so liebt, wie Frank seine Isabelle liebt, dann werde ich heiraten – aber nicht eher.
Sie hatte viel darüber nachgedacht. Bisher war sie immer zufrieden gewesen mit den Umständen, die ihr das Leben beschert hatte – aber das war etwas ganz anderes, als sich selbst etwas zu suchen und aufzubauen. Eine Schneiderei aufzumachen, und den Laden so zu dekorieren und einzurichten, wie Isabelle und sie es sich vorstellten, ein richtiges Geschäft zu führen und ihre eigene Kollektion herauszubringen – das war eine Herausforderung und sie freute sich darauf. Statt sich nach den Launen und Wünschen eines Arbeitgebers zu richten, würden sie sich ihre eigenen Ziele stecken und ihre eigenen Träume verwirklichen.
Bei diesen Gedanken begann ihr Herz wild zu klopfen. Als sie um die Ecke bog und den Flur betrat, der
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