Ein zahnharter Auftrag
Handflächen nach vorne. Sie verringerten die Fluggeschwindigkeit. Sanft schwebten sie in kleinen Kreisen Zentimeter für Zentimeter der Erde entgegen. Und da erkannten sie ihn: Unscharf, von Dunkelheit, hohen Mauern und Bäumen umgeben, lag er vor ihnen: der Friedhof des Grauens.
Mit genügend Abstand drehten sie eine Runde über dem Friedhof. Die Besucher bekamen eine Vorahnung, wie der Friedhof zu seinem Namen gekommen war. Von oben sah es aus, als huschten Schatten über die Grabsteine. Wie riesige, stumme Beobachter standen sie da. Die Bäume auf dem Friedhof schienen sich im Wind zu wiegen. Doch es war windstill.
Die Delegation zur Rettung der Vampirheit landete in der Nähe der Friedhofsmauern. Sanft setzten erst acht Füße, dann zwei Klobrillen auf. Vlad, Mihai, Daka und Silvania streiften sich die Gurte ab. Helene und Ludo schnallten sich von den Klobrillen. Die Helme ließen sie auf. Man wusste ja nie.
Mihai sah auf die Uhr. »Ihr habt noch genau zehn Minuten. Perfekt.«
Silvania fand das alles andere als perfekt. Zehn Minuten konnten schnell vergehen. Vor allem, wenn man gerne erst mal zehn Minuten zum Verschnaufen gehabt hätte. Ihre Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Sie schüttelte die Arme aus. Dann riss sie sich die Fliegermütze vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Daka pfiff bereits wieder leise Krypton Krax vor sich hin und holte eine luftdichte Box aus ihrem Rucksack. Darin wollten sie die Pflanze nach Bindburg transportieren. Normalerweise bewahrte Frau Tepes ihren Harzer Käse in der Box auf.
»Also, wir bleiben hier draußen und halten die Stellung«, sagte Mihai.
»Das Grab von Osmund Mortus findet ihr ganz leicht. Es hat den größten Grabstein«, erklärte Vlad. »Ihr zieht die Germania Dracona samt Wurzel heraus, dann steckt ihr sie sofort in die Box.«
»Und kommt sofort wieder zu uns«, fügte Mihai Tepes hinzu. Nur für den Fall, dass seine Töchter noch einen Friedhofsbummel einlegen wollten.
»Lasst euch nicht von seltsamen Schatten oder Geräuschen ablenken. Die gibt es auf jedem Friedhof«, wusste Helene.
»Aber seid trotzdem auf alles gefasst«, riet Ludo.
»Wieso? Hast du etwas vorhergesehen?«, fragte Silvania. Ihr Atem hatte sich vom Flug ein wenig beruhigt. Jetzt hämmerte ihr Herz bei dem Gedanken an den bevorstehenden Friedhofsbesuch.
»Nö.« Ludo musterte einen Faden an seinem linken Skihandschuh.
»Ihr braucht wirklich keine Angst zu haben«, sagte Mihai. »Wir sind hier. Nur ein paar Schritte von euch entfernt.«
»Und ein paar Friedhofsmauern«, fügte Daka hinzu.
»Denkt an etwas Schönes«, riet Onkel Vlad. »Eiscreme, eure Lieblingspuppen oder frische Blutwurst.«
Daka und Silvania runzelten die Stirn.
»Ihr müsst los«, sagte Helene nach einem Blick auf die Uhr.
Daka und Silvania blickten in die Runde. Dann sahen sie sich an. Beide nickten kaum merklich. Den Schwestern war klar, dass jede von ihnen jetzt lieber etwas anderes gemacht hätte. Zum Beispiel mit Karlheinz gekuschelt, Fernsehen geguckt oder Englisch-Nachhilfe gehabt. Sie hätten sogar lieber mit Woiwo und Pille und Palle gespielt. Aber das Leben war kein Wunschkonzert. Erst recht nicht, wenn man ein Halbvampir war.
Silvania seufzte. Daka legte ihr einen Arm um die Schulter. Bevor sich die Schwestern zum Gehen wenden konnten, war ihr Vater mit zwei Schritten bei ihnen. Er umarmte sie gleichzeitig. Lange und kräftig. Schließlich entließ er sie aus seinen Armen. Er sah sie einen Moment mit glänzend schwarzbraunen Augen an. Dabei sagte er nichts. Dann nickte er.
Daka und Silvania sahen ein letztes Mal zu ihrem Vater, ihrem Onkel und ihren Freunden. Dann drehten sie sich um und gingen auf den Friedhofseingang zu. Ihre Knie waren weich wie Knoblauchbutter in der Sonne.
Osmund Mortus
W ie viele Jahre lag sein Körper nun schon in diesem finsteren, feuchten Grab? Er wusste es nicht mehr. Waren es hundert? Zweihundert? Oder tausend? Die Zeit war eine dröge graue Nebelsuppe, wenn man tot war. Was blieb einem zur Unterhaltung – außer den Würmern? Erinnerungen. Davon hatte Osmund Mortus reichlich. Gute, schlechte. Schöne und traurige. An die schlechten und traurigen dachte er selten. Am liebsten erinnerte er sich an die Tage, als er vor Leben strotzte. Als er stark war. Groß war. Und gefürchtet wurde. Er war Osmund Mortus – der größte Vampirjäger seiner Zeit.
Damals war er aus seinem kleinen Dorf aufgebrochen, sich an den Vampiren zu rächen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher