Eine Andere Welt
versinken; dann hob er plötzlich den Kopf und sagte: »Vergessen Sie nicht, die Ausweispapiere in Ihrer Brieasche sind Reproduktionen von Originaldokumenten, die in verschiedenen Datenzentralen archiviert sind. Ihre Reproduktionen sind zufriedenstellend, aber ich werde eventuell die Originale überprüfen. Hoffen wir, sie sind ebenso in Ordnung wie die Repros, die Sie bei sich haben.«
»Aber das ist ein ungewöhnliches Verfahren, Mr. McNulty«, sagte Kathy mit schwacher Stimme. »Statistisch gesehen ...»
»In diesem Fall«, sagte McNulty, »glaube ich, daß es sich lohnt.«
»Warum?« fragte Kathy.
»Weil wir glauben, daß du uns nicht alle auslieferst, die zu dir kommen. Vor einer halben Stunde passierte dieser Taverner anstandslos eine Straßenkontrolle. Wir folgten den Signalen des Senders hierher, und seine Papiere scheinen in Ordnung zu sein. Aber Ed sagt ...«
»Ed trinkt«, warf Kathy ein.
»Aber wir können auf ihn zählen.« McNulty lächelte nicht unfreundlich. »Während wir uns auf dich nicht ganz verlassen können.«
Jason brachte seine Militärdienstbescheinigung zum Vorschein und zog die Plastiktonspur am unteren Rand zwischen den Fingernägeln durch. Eine dünne, blecherne Stimme sagte: »Kleiner Mann, was nun?«
»Wie könnte das gefälscht sein?« sagte er. »Das ist die Stimme, die ich vor zehn Jahren hae, als ich aus dem Reservedienst entlassen wurde.«
»Das bezweifle ich«, sagte McNulty. Er blickte auf die Armbanduhr und wurde amtlich. »Sind wir Ihnen etwas schuldig, Miß Nelson? Oder sind wir für diese Woche klar?«
»Klar«, sagte sie, und es schien sie einige Anstrengung zu kosten. Dann fügte sie in unsicherem, halb geflüstertem Ton hinzu: »Nach Jacks Entlassung werden Sie überhaupt nicht mehr auf mich zählen können.«
»Für dich, mein Kind«, sagte McNulty väterlich, »wird Jack nie herauskommen.« Er zwinkerte Jason zu, und Jason zwinkerte zurück. Zweimal. Er verstand McNulty. Der Mann lebte von den Schwächen anderer; was Kathy an Manipulation anwendete, hae sie wahrscheinlich von ihm gelernt. Und von seinesgleichen.
Er konnte jetzt verstehen, wie sie zu dem geworden war, was sie war. Verrat war ein alltägliches Ereignis; die Weigerung, jemanden zu verraten, wie in seinem Fall, war überaus ungewöhnlich. Er konnte sich nur darüber wundern und dankbar sein.
Wir haben einen Staat, der durch Verrat funktioniert, dachte er. Als ich eine Berühmtheit war, war ich bevorrechtet. Jetzt bin ich wie jeder andere: ich muß mich jetzt mit dem auseinandersetzen, was sie ihr Leben lang bedrückt. In längst vergangenen Tagen mußte auch ich damit leben, doch später verdrängte ich es, weil es zu unerfreulich war, um daran zu glauben. Sobald ich die Wahl hae, entschied ich mich dafür, nicht zu glauben.
McNulty legte die fleischige Hand auf Jasons Schulter und sagte: »Sie kommen mit mir.«
»Wohin?« verlangte Jason zu wissen, und er wich unwillkürlich vor McNulty zurück, gerade so wie Kathy vor ihm zurückgewichen war. Auch das hae sie von den McNultys dieser Welt gelernt.
»Sie können ihn keines Vergehens anklagen!« sagte Kathy mit heiserer Stimme.
»Wir erheben keine Anklage gegen ihn«, erwiderte McNulty freundlich. »Ich möchte nur seine Fingerabdrücke, Fußabdrücke, Stimmaufnahme und das EKG-Wellenmuster. In Ordnung, Mr. Tavern?«
Jason sagte: »Ich möchte einen Polizeibeamten nicht gern korrigieren ...« Er brach ab, als er Kathys warnenden Blick auffing. »Ich meine, Sie tun bloß Ihre Pflicht, also werde ich mitkommen«, schloß er lahm. Vielleicht hae Kathy recht; vielleicht konnte es nützlich sein, daß McNulty sich seinen Namen falsch gemerkt hae. Man konnte nie wissen. Mit der Zeit würde es sich schon herausstellen.
»Mr. Tavern«, sagte McNulty träge, als er ihn zur Tür schob. »Man denkt dabei an Bier, Wärme und Gemütlichkeit, nicht wahr?« Er blickte über die Schulter zu Kathy zurück und sagte in scharfem Ton: »Nicht wahr?«
»Mr. Tavern ist ein warmherziger Mensch«, sagte Kathy durch die Zähne. Die Tür fiel hinter ihnen zu, und McNulty führte ihn den Korridor entlang zur Treppe, wobei er den Geruch von Zwiebeln und Tomatenketchup in alle Richtungen atmete.
Im Polizeirevier Nr. 469 fand Jason Taverner sich inmien einer Menge von Männern und Frauen, die sich ziellos durch Korridore, Warteräume und Büros schoben und darauf warteten, vorgelassen zu werden, nach Haus gehen zu dürfen, Ausküne zu erhalten oder Aussagen zu machen. McNulty hae ihm ein
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