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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ein einmaliges, gedehntes Heulen. Es ließ mich schaudern. Jedes andere Geräusch setzte für einen Augenblick aus, und das Tal wurde totenstill, als sich der Nachhall des Geheuls bis an die äußeren Grenzen des Tals hinzog. Dann setzten die übrigen Geräusche wieder ein. Sofort erkannte ich ihr Muster. Nachdem ich einen Augenblick aufmerksam gehorcht hatte, glaubte ich Don Juans Ermahnung, ich solle auf die Löcher zwischen den Klängen achten, zu verstehen. Das Geräuschmuster wies Zwischenräume zwischen den einzelnen Klängen auf. Zum Beispiel waren bestimmte Vogelpfiffe zeitlich abgestimmt und durch Pausen getrennt, wie auch all die anderen Geräusche, die ich wahrnahm. Das Rascheln der Blätter war wie ein bindender Leim, der sie zu einem homogenen Summen vereinigte. Tatsache war, daß die Zeitfolge jeden Tons eine Einheit im gesamten Geräuschmuster bildete. So waren die Pausen zwischen den Klängen, wenn ich auf sie achtete, Löcher in einer Struktur. Wieder hörte ich das durchdringende Heulen von Don Juans Geisterfänger. Diesmal erschreckte es mich nicht, aber die Geräusche hörten wieder für einen Augenblick auf, und diese Pause nahm ich als ein sehr großes Loch wahr. Genau in diesem Moment wechselte meine Aufmerksamkeit vom Hören zum Schauen. Ich schaute auf eine niedrige Hügelgruppe mit satter, grüner Vegetation. Die Umrisse der Hügel waren so angeordnet, daß, von meinem Standpunkt aus gesehen, am Hang eines der Hügel ein Loch zu sein schien. Es war ein Zwischenraum zwischen zwei Hügeln, und durch diesen konnte ich die tiefen, dunkelgrauen Schatten der Berge in der Ferne erkennen. Es war, als sei das Loch, das ich sah, zugleich das »Loch« in den Geräuschen. Dann setzten die Klänge wieder ein, aber das visuelle Bild des riesigen Loches blieb. Kurz darauf nahm ich die Klangmuster, ihre Anordnung und das Arrangement ihrer Pausen noch klarer wahr. Mein Verstand konnte eine enorme Anzahl einzelner Klänge erkennen und unterscheiden. So war jede Pause zwischen den Geräuschen eindeutig ein Loch. In einem bestimmten Augenblick kristallisierten sich die Pausen in meinem Kopf und bildeten eine Art festes Netz, eine Struktur. Ich sah sie nicht, noch hörte ich sie. Ich fühlte sie mit einem unbekannten Teil meiner selbst.
    Don Juan spielte noch einmal auf seiner Saite. Die Klänge erloschen wie zuvor, dadurch entstand ein riesiges Loch in der Klangstruktur. Diesmal aber verband sich die große Pause mit dem Loch in den Hügeln, das ich anschaute. Sie überlagerten sich. Der Wahrnehmungseffekt der zwei Löcher dauerte so lange, daß ich imstande war, ihre Umrisse zu sehen und zu hören, wie sie ineinander paßten. Dann begannen die anderen Geräusche wieder, und die Struktur ihrer Pausen wurde zu einer außerordentlichen, beinah visuellen Wahrnehmung. Ich begann die Geräusche zu sehen, wie sie Muster bildeten, und dann wurden all diese Muster auf die Umgebung überlagert, genauso wie ich die Überlagerung der zwei Löcher beobachtet hatte. Ich schaute oder hörte nicht, wie ich es gewohnt war zu tun. Ich tat etwas, das völlig verschieden war, aber Züge von beidem in sich vereinigte. Aus irgendeinem Grund war meine Aufmerksamkeit auf das große Loch in den Hügeln konzentriert. Ich glaubte, es zu hören und zugleich zu sehen. Es hatte etwas Zauberisches an sich. Es beherrschte mein Wahrnehmungsvermögen. Jedes einzelne Klangmuster, das mit einer Gestalt der Umgebung zusammenfiel, war mit diesem Loch verbunden.
    Wieder hörte ich das unheimliche Heulen von Don Juans Geisterfänger; alle anderen Geräusche erloschen. Die beiden großen Löcher schienen sich aufzuhellen, und als nächstes blickte ich wieder auf das gepflügte Feld. Der Verbündete stand dort, wie ich ihn zuvor gesehen hatte. Das Licht über der ganzen Szenerie wurde sehr klar. Ich konnte ihn genau sehen, als sei er kaum fünfzig Meter entfernt. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Sein Hut verhüllte es. Dann begann er sich mir zu nähern und hob im Gehen langsam den Kopf. Fast konnte ich sein Gesicht sehen, und das erschreckte mich. Ich wußte, daß ich ihn sofort aufhalten mußte. Mein Körper geriet in eine seltsame Erregung. Ich fühlte eine Flut von »Macht« aus mir herausströmen. Ich wollte den Kopf zur Seite wenden, um die Vision zu beenden, aber ich konnte es nicht. In diesem entscheidenden Augenblick kam mir ein Gedanke in den Sinn. Ich wußte, was Don Juan gemeint hatte, als er davon sprach, daß die Dinge eines »Weges

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