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Eine Art von Zorn

Eine Art von Zorn

Titel: Eine Art von Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ambler
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anzustellen. In Peira-Cava war die Straße von einem Schneepflug geräumt worden, aber auf den Hängen lag viel Schnee, und die Bäume waren weiß. Hier war noch Winter.
    »Wenn der Schnee bleibt, wird es zu Ostern hier Skifahrer haben«, bemerkte Sanger.
    Peira-Cava, das sind ein paar verstreute Hotels und Pensionen mit schöner Aussicht auf die Berge. Als wir ankamen, war es Zeit zum Mittagessen. Auf Sangers Vorschlag hielten wir vor einem Hotel mit Bar und Restaurant.
    Die Bar war geheizt, aber leer. Im Restaurant deckte ein Kellner abseits einen Tisch für sechs Personen, wahrscheinlich für das Personal. Er versprach uns, etwas zu trinken zu bringen, und wir gingen in die Bar zurück.
    »Wollen Sie die Fragen stellen oder soll ich es tun?« fragte Sanger.
    »Sie kennen die Vorgeschichte besser als ich. Vielleicht sollten Sie es tun.«
    »Wie Sie wollen.«
    Die Art, wie er vorging, war lehrreich. Ich zum Beispiel hätte zuerst eine umständliche Entschuldigung für meine Neugier vorgebracht. Ich sei im vorigen Jahr in Peira-Cava gewesen und hätte hier eine charmante alte Dame kennengelernt. Jetzt möchte ich die Osterfeiertage wieder hier verbringen, könne mich aber auf den Namen nicht mehr besinnen. Ich wisse nur noch, daß sie mit einem Dienerehepaar in einem großen Haus lebe, und so weiter. Sanger ging die Sache auch nicht direkt an, aber er ließ sich etwas Originelleres und sehr Wirkungsvolles einfallen. Wie er den Kellner mit den Getränken hereinkommen hörte, sprach er lauter und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
    »Sie als Laie sagen, das sei unmöglich, sie würde an Vergiftung sterben. Ich als Arzt sage Ihnen, daß sie immun werden kann. Äther ist weniger giftig als die meisten Alkoholsorten. Ein Äthertrinker mag absonderlich sein, aber selbst wenn er 400 Gramm Äther trinkt, braucht er noch nicht verrückt zu sein. Wenn einer daran gewöhnt ist, kann er auch 500 Gramm trinken, ohne daß er einen Schaden davonträgt.«
    Der Kellner war mit den Getränken bei uns stehengeblieben und lauschte fasziniert unserem Gespräch. Sanger sah kurz zu ihm auf. »Schönen Dank, mein Freund.«
    Nachdem der Kellner die Gläser auf den Tisch gestellt hatte, wandte sich Sanger wieder mir zu. »Und er kann auch ruhig weitertrinken. Sie glauben mir nicht?« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. Er sah wieder den Kellner an. »Ich werde es beweisen. Herr Ober, haben Sie schon einmal von jemandem gehört, der Äther trinkt?«
    Der Kellner grinste. »Ja, Herr Doktor.«
    Sanger grinste zurück. »Ja, natürlich! Wie heißt doch diese Witwe? Madame …?« Er schnalzte mit den Fingern, als liege ihm der Name auf der Zunge.
    »Madame Lehmann, Herr Doktor.«
    »Richtig, Madame Lehmann. Zeitweise trinkt sie fünfhundert Gramm am Tag, nicht wahr? Sagen Sie es meinem Freund.«
    Der Kellner sah uns beide etwas unsicher an. »O ja, so viel pflegte es manchmal zu sein.«
    »Pflegte?« sagte Sanger schnell.
    »Madame Lehmann ist vor einem halben Jahr gestorben, Herr Doktor. Herzschlag.«
    Einen Augenblick herrschte unnatürliches Schweigen; dann spielte Sanger seine Rolle weiter. »Das tut mir aber leid«, sagte er ruhig. »Allerdings habe ich ihr gesagt, daß sie sich mit dem Herzen vorsehen müsse, als sie mich letztes Jahr aufsuchte. Trotzdem hätte ich das Ende nicht so schnell erwartet. Was geschah mit dem Haus? Was wurde aus dem Dienerehepaar?«
    »Die beiden gingen zurück in den Norden, woher sie stammten, Herr Doktor. Sie hat ihnen in ihrem Testament eine kleine Summe vermacht. Ihr Neffe, der den Rest geerbt hat, hat das Haus an eine belgische Familie verkauft.«
    Um den Kellner nicht stutzig zu machen, spielte Sanger seine Rolle ohne mit der Wimper zu zucken zu Ende. Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu und klopfte wieder mit den Fingern auf die Tischplatte. »Haben Sie das gehört, mein Lieber? Sie starb am Herzschlag, nicht am Äther.«
    Der Kellner grinste und ließ uns allein.
    Ich trank mein Glas zur Hälfte leer. »Ich glaube, wir fahren zum Mittagessen lieber zurück nach Nizza«, sagte ich. »Es sei denn, Sie wollen hier essen.«
    Er schüttelte den Kopf.
V
    Wir gingen in ein Restaurant in der Rue de France, wo man ihn kannte. Auf der Rückfahrt war er mürrisch und schweigsam gewesen, aber die herzliche Begrüßung durch den maître d’hôtel schien seine Stimmung ein wenig zu heben. Nachdem wir das Essen bestellt hatten, lehnte er sich in seinen Sessel zurück und lächelte mich etwas

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