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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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hätten es nie getan. Und es läßt uns nach einer Möglichkeit suchen, es wiedergutzumachen.
    Die Würde des Schuldigen wird in der Art und Weise liegen, wie er zu der Schuld steht und was er unternimmt, um die verlorene moralische Ordnung wiederherzustellen. Das wird davon abhängen, worin die Schuld, genau besehen, besteht. Denn Schuld kann vielfältig sein und die Würde auf vielfältige Weise herausfordern. Es kann sein, daß ein Kind mir vors Auto läuft und ich es überfahre. Ich war die Ursache seines Todes, aber es trifft mich keine Schuld: Ich konnte es nicht verhindern. Trotzdem träume ich davon: wie meine Räder über den kleinen Körper rollten. Es gibt nichts, was ich, moralisch gesehen, wiedergutmachen müßte. Trotzdem werde ich vielleicht die Eltern besuchen, und ich könnte es so erleben, daß der Besuch etwas mit Würde zu tun hat. Es wäre nicht die Würde der Entschuldigung, sondern diejenige des sichtbaren Bedauerns und der Trauer über das Unglück. Die Würde desjenigen, der zeigt, daß ihn das Leid nicht unberührt läßt, auch wenn er darin nicht schuldig geworden ist.
    Vielleicht überfahre ich das Kind unter Alkoholeinfluß, ich nehme es am Bordstein mit. Oder ich fahre es an, und es bleibt gelähmt. Ich wollte es nicht, aber ich habe mich schuldig gemacht. Abgesehen von meiner rechtlichen Verantwortung: Was kann ich tun, im Sinne der Würde? Das Minimum: die Schuld anerkennen, keine Leugnung, kein Schönreden, keine Sophisterei. Würde als Wahrhaftigkeit. Ich werde um Vergebung bitten. Nicht wegen meines Willens, sondern wegen der Fahrlässigkeit, der mangelnden Verantwortung für meinen Zustand. Ich werde tun, was ich kann, um das Leid zu lindern. Ich werde mich vor dem Kind und den Eltern als einer zeigen, der sich nicht davonstiehlt. Auch nicht vor der berechtigten Wut der Eltern und dem berechtigten Groll des Kindes, die ein Leben lang dauern mögen. Würdelos wäre es, wenn ich die Sache mit einem Dauerauftrag für erledigt hielte.
    Und mit mir selbst? Was mache ich mit mir selbst? Es reicht nicht, nicht zu vergessen. Doch Würde kann auch nicht Lähmung durch Schuld bedeuten, ein Ersticken an diesem einen Gedanken. Vielleicht geht es darum: daß ich an dieser Erfahrung reife, indem ich für mein Leben insgesamt mehr Verantwortung übernehme und meine Gewichtung der Dinge überprüfe. So daß die Würde hier mit derjenigen aus dem vorangegangenen Kapitel verwandt wäre: Verantwortung für sich selbst.
    Ich kann auf schlimmere Weise versagen: Ich lasse das angefahrene Kind auf nächtlicher Straße liegen und fahre weiter. Die Schuld liegt nun in meinem Willen begründet: nicht darin, daß ich seinen Tod wollte, wohl aber darin, daß ich den Willen zu helfen nicht aufbrachte. Aus Angst oder weil mir etwas anderes wichtiger war. Es ist nicht gleichgültig, welches das Motiv war. Aber in beiden Fällen bin ich durch eine Unterlassung schuldig geworden, durch einen fehlenden Willen. Das hat mehr mit mir und meiner Identität zu tun als der Alkohol. Und deshalb werde ich die Schuld als tiefer erleben: Ich bin aus der moralischen Intimität herausgefallen, weil ich bin, wie ich bin. Ich habe mich nicht durch mangelnde Kontrolle isoliert, sondern durch einen Charakterfehler. Der Blick der anderen wird vor Gericht ein anderer sein als beim Alkohol. Denn obwohl ich die Würde des Kindes nicht aktiv verletzt habe wie bei einem Mißbrauch, habe ich sie doch auch nicht geschützt. Sie war mir nicht wichtig genug. Am Kind kann ich es nicht wiedergutmachen. Den Eltern kann ich mich stellen und versuchen, ihrem Haß standzuhalten, ohne etwas zu beschönigen. Was noch?
    In seinem Roman Eine Sekunde nur erzählt John Burnham Schwartz die Geschichte eines Mannes, der nachts, mit seinem kleinen Sohn neben sich im Auto, einen Jungen überfährt und flieht. Es sei ein Hund gewesen, sagt er dem Jungen. Es geschah bei einer Tankstelle, und der Vater sah, wie sein Junge vom Auto erfaßt wurde. Das Buch handelt von der tiefen Verstörung, in die die Familie des toten Jungen fällt, und von der Suche des Vaters nach dem Täter. Am Ende findet er ihn in einer Hütte, wo er mit seinem eigenen Jungen einige Tage verbringt. Er hört ihn mit dem Jungen sprechen. Dann zwingt er den Mann in den Schnee hinaus, eine Pistole im Rücken. Er stolpert und gibt dem Mann die Gelegenheit, ihn niederzuschlagen. Der Mann steckt die Waffe ein und geht. Doch er kehrt zurück. »Ich hatte ihm alles genommen, was man ihm nehmen

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