Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
zur Welt draußen gibt. Und daß man in seiner Zelle auch einmal muß lachen können. Viele Grausamkeiten werden aus Phantasielosigkeit begangen. Was die Phantasie blockiert, ist der blinde Wunsch nach Vergeltung. Wie beim Ruf nach der Todesstrafe. Der Staat hat die Aufgabe, diesem blinden, rohen Wunsch entgegenzutreten und die moralische Würde gegen die Lust am Tribunal zu verteidigen. Am Ende ist das nur zu erreichen, wenn die Gesellschaft als ganze so denkt. Wenn die Würde, auch die Würde der Schuldigen, ein gesellschaftliches Anliegen ist. Wenn es nicht eine würdelose Gesellschaft ist, die nur in Kategorien der Vergeltung, der Züchtigung und des Wegsperrens denkt.«
»Jean-Claude Romand«, sagt der Direktor. »Sie wissen?«
Ich nicke.
»Ich war beim Prozeß dabei. Es war unerträglich.«
»Ja«, sage ich.
»Trotzdem? Auch für ihn? Gilt es auch für ihn?«
Ich nicke.
»Ein Romantiker«, sagt er, »ein echter Romantiker. Lange her, daß ich so einem begegnet bin.«
»Ich habe auch schon gehört: Sozialkitsch.«
»Stört es Sie?«
»Nein. Sagt viel über die Leute und nichts über die Sache.«
Wir sitzen eine Weile schweigend. Seine Ironie hat mich nicht gestört. Es schwang darin Respekt mit.
Auf dem Weg zur Tür bleibt er stehen. »Dort, wo Sie gesessen haben, saß neulich ein Bankräuber. Ein Schrank. Ein Gesicht wie eine Wand. ›Du: großes Arschloch mit Schlüssel‹, sagte er. ›Du: kleines Arschloch – ohne Schlüssel‹, sagte ich. Eine Weile passierte nichts. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. Einige Zeit später treffe ich ihn auf dem Flur. ›Wie war Urlaub, Chef?‹, fragt er.«
»Sehen Sie«, sagte ich.
Über die Sache mit dem Arschloch haben wir gelacht. Ich war froh über dieses Lachen, als ich draußen stand und zu der grauen Festung hinüberblickte. Eines der kleinen, vergitterten Fenster war mit einer Wolldecke verhängt. In dieser Zelle wohnte seit sieben Jahren Julien – wenn denn wohnen das richtige Wort ist. Er hatte noch sechs Jahre vor sich. Die Wolldecke hing immer dort. Der Direktor hatte das schließlich akzeptiert. Wenn die Zellen für den Freigang geöffnet wurden, blieb Julien sitzen und zeichnete weiter. Oder las. Am liebsten Bücher über ferne Länder. Ich ging zur Buchhandlung um die Ecke und ließ ihm einen Stapel solcher Bücher schicken. Das Paket würde großzügig behandelt, das hatte mir der Direktor zugesichert. Danach ging ich noch einmal an der Festung vorbei. Ich dachte an die Gelegenheiten, wo es auch mit mir hätte schiefgehen können.
Absolute moralische Grenzen?
Aus dem Gespräch über Selbstachtung wissen wir, daß Bernhard Winter ein Mann mit Prinzipien ist. Einer, für den es Dinge geben muß, an denen unter keinen Umständen gerüttelt werden darf. Als er vom Luftsicherheitsgesetz erfährt, das die Streitkräfte ermächtigen sollte, Flugzeuge, die als Waffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, wird er rot im Gesicht.
»Ich stelle es mir so vor«, sagt er zu Sarah: »Da tritt einer vor mich hin und sagt:
›Tut uns leid, aber wir müssen Sie töten, um das Leben anderer zu schützen.‹
›Wie kommen Sie auf die verrückte Idee, das Leben anderer dem meinen vorzuziehen? Das meine für das Leben anderer zu opfern? Haben Sie den Verstand verloren? Menschen darf man nicht gegeneinander aufrechnen . Das verstößt gegen ihre Würde.‹
›Wenn das Flugzeug in den Wolkenkratzer rast, sind Sie ohnehin tot. Dann sind sowohl Sie als auch die Leute im Haus tot. Wenn wir Sie abschießen, sind nur Sie tot, die anderen leben. Es geht also darum, die Anzahl der Opfer möglichst klein zu halten. Das kleinere dem größeren Übel vorzuziehen. Leid zu verringern. Ist das nicht geboten ? Moralisch geboten?‹
›Man darf, wie gesagt, Menschen nicht gegeneinander aufrechnen. Sie nicht töten, auch wenn die Rechnung, die allein mit ihrer Anzahl operiert, dann besser aussieht. Es geht um jeden einzelnen und um dessen Würde. Das ist der einzige moralische Maßstab. Und unschuldige Menschen tötet man einfach nicht. Zu keinem Zweck.‹«
Es war für Winter ein guter Tag, als das Bundesverfassungsgericht über diesen Paragraphen des Luftsicherheitsgesetzes urteilte: unvereinbar mit dem Grundgesetz und daher nichtig; unvereinbar mit dem Recht auf Leben in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde. Triumphierend las er Sarah aus der Begründung der Richter vor: Die Passagiere »würden dadurch, daß der
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