Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
nicht, daß mein Leben der Gegenstand von Überlegungen des Nutzens wird.‹«
»Klingt auf den ersten Blick richtig. Ist nachvollziehbar. Vor allem, weil ›Nutzen‹ hier einen abschätzigen, schäbigen, beinahe menschenverachtenden Klang hat. Aber ist es nicht zu einfach, zu plakativ? Denk dran: Diejenigen, die für den Abschuß sind, glauben, moralisch richtig zu denken. Nicht nur rechnerisch. Und sie halten es für offensichtlich , daß man das Flugzeug daran hindern muß, in den Turm zu rasen. ›Nehmen wir an‹, werden sie sagen, ›daß wir es nicht abschießen. Zu den toten Passagieren kommen all diejenigen hinzu, die im Gebäude waren. Der Turm kann kippen, andere Türme mitreißen, Hunderte von Toten auf den Straßen, eine Feuersbrunst, ein Inferno. Wollt ihr uns weismachen, daß es richtig ist, das einfach so geschehen zu lassen? Daß es moralisch richtig ist? Nur, damit die Passagiere des Flugzeugs, die ohnehin gleich sterben werden, ein paar Minuten länger leben? Entschuldigung, aber das ist grotesk !«
»Es geht nicht um ein paar Minuten Leben. Es geht um die Verletzung der Würde. Das ist das Argument der Richter.«
»Nimm an, das Flugzeug steuert auf ein Atomkraftwerk zu. Wir wissen: Das hält es nicht aus. Ich brauche dir die Konsequenzen nicht auszumalen. Zehntausende von Toten, langfristig Hunderttausende. Ein großes Stück des Landes unbewohnbar. Wollen wir wirklich sagen, daß die Würde der Passagiere schwerer wiegt als die Abwendung dieses unermeßlichen Schadens, der ein unermeßliches Leid bedeutet? Moral hat doch nicht nur mit dem Schutz von Würde zu tun, sondern auch mit der Verhinderung von Leid. Moralisches Handeln ist auch Verringerung von Leid. Und der Abschuß ist ohne Frage eine Verringerung von Leid gegenüber dem Zustand nach der Katastrophe.«
»Würde darf nicht mit dem Gemeinwohl verrechnet werden. Auch nicht mit Leid. Sie ist nicht verhandelbar . Unantastbar eben. So dachten auch die Richter. Und beriefen sich auf den ersten Satz des Grundgesetzes. Der Staat kann die Würde des Menschen nicht verwalten , indem er Situationen wie diejenige, die durch die Terroristen geschaffen wurde, betrachtet und dann entscheidet: ›Sonst geht uns die Würde über alles. Aber hier nicht.‹ Der Zweck, Leid abzuwenden, großes Leid, wird viele Mittel heiligen. Dieses nicht.«
» Verrechnen, verhandeln, verwalten : Das ist geschickt ausgedrückt. Aber auch tendenziös. Es läßt an Geschäft, Schlitzohrigkeit und Bürokraten mit zweifelhafter Moral denken. Diese Tonspur läuft mit, gedämpft, kaum hörbar, aber wirkungsvoll. Ihre Melodie provoziert die trotzige, aufstampfende Reaktion: › Hier , bei der Würde, hört alles Vergleichen auf. Wir lassen keine Nachfragen zu. Ihr Schutz gilt absolut . Es muß dieses eine Heiligtum geben, wie du es genannt hast. Das hat uns die schreckliche Geschichte gezeigt, gerade unsere.‹ Aber ist das nicht auch ein rhetorischer Trick? Eine unauffällige Diffamierung derer, die um keinen Preis zulassen wollen, daß die Türme fallen? Denen die Verhinderung von Leid über alles geht? Es ist doch ein zutiefst moralischer Zweck, der hier die Mittel heiligt, werden sie sagen. Es geht nicht um ein Verrechnen, es geht um ein Opfern : Die Würde einiger wird dem Gemeinwohl geopfert. Das darf nicht in beliebigen Situationen geschehen, es kann nicht die Regel sein und darf nicht zur Routine werden. Aber es sind Situationen denkbar, in denen dieses Opfer gebracht werden muß. Um schreckliches Leid abzuwenden. Wer unter keinen Umständen bereit ist, das Opfer der Würde zu bringen, macht aus dem Heiligtum einen Fetisch . Wie derjenige, der zum bedrohlichen Flugzeug hochblickt und sagt: ›Ich sehe die Katastrophe kommen, doch mir sind die Hände gebunden. Sie wissen schon: die Würde der Passagiere in ihren letzten Minuten.‹«
»Natürlich darf keine Diffamierung derer stattfinden, für die Gemeinwohl und die Abwendung von Leid Würde übertrumpfen können. Sie sind moralisch kein bißchen weniger ernsthaft als die anderen und kein bißchen weniger ernst zu nehmen. Ich denke, die anderen sollten einfach sagen: Wir wollen aber lieber in einer Gesellschaft leben, in der Würde niemals übertrumpft werden kann. Das ist die Art, wie wir leben wollen.«
»Und wenn der Preis vorhersehbares und abwendbares Leid ist?«
»Dann – nun ja, dann ist das der Preis. Der Preis für die Unantastbarkeit der Würde.«
»Und wenn das Leid euch trifft?«
»Es ist der Preis
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