Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
für eine Kultur der Würde.«
»Man muß ja nicht bei der eher fernen Möglichkeit eines Flugzeugabschusses bleiben. Die Frage stellt sich auch bei Näherliegendem: Folter zur Abwendung von Leid für andere. ›Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden‹, sagt das Gesetz. Deshalb sind Aussagen, die unter Androhung von Folter erpreßt werden, in einem Gerichtsverfahren nicht verwendbar, und Aussageerpressung ist eine Straftat, ein Amtsdelikt. Wieder ist der Grund der Schutz der Würde, und das Gesetz behandelt ihn als absolut. Aber stell dir vor, unser Kind ist entführt worden. Der Entführer ist gefaßt, und er ist unzweifelhaft der Entführer. Mit gewöhnlichen Mitteln kann man ihn nicht dazu bringen zu sagen, wo das Kind ist, unser Kind. Der Wille hinter der Verweigerung ist unbeugsam. Wäre dein Impuls nicht auch: Diesen Willen muß man brechen, und wenn das nur mit Folter geht, dann ist das eben so? Es hat immer Polizisten gegeben und wird sie immer geben, die denken: ›Zum Teufel mit dem Gesetz, und niemand fasle mir etwas von der Würde dieses Schweins: Ich muß dieses Kind retten! ‹«
»Ich bin ziemlich sicher: Auch ich hätte diesen Impuls und könnte mir vorstellen, die Polizisten anzuschreien: ›Worauf warten Sie noch? Retten Sie mein Kind – koste es, was es wolle!‹«
»Aber?«
»Trotzdem will ich lieber in einem Staat leben, wo das verboten ist. Nicht nur, damit ich sicher sein kann: Ich werde nie gefoltert. Anders als in Amerika. Nein, es ist aus einem tieferen Grund: Folter ist die Zerstörung von Würde und oft auch die seelische Zerstörung von Menschen. Wie in Guantánamo. Ich möchte nicht Mitglied einer Gemeinschaft sein, wo das geht. Ich will es einfach nicht.«
»Und unser Kind? Seine Angst, seine Verzweiflung?«
»Was ich jetzt sagen muß und auch sagen werde, ist gefährlich, und vielleicht wird es zwischen uns etwas unwiderruflich verändern: Ich möchte auch unserem Kind zuliebe vom absoluten Schutz der Würde nicht abgehen.«
»Er ist ein rücksichtsloser, grausamer Verbrecher! Und es geht um unser Kind, das seinetwegen leidet!«
»Trotzdem.«
» Trotzdem ?!«
»Ja. Und es kommt jetzt darauf an, ehrlich und genau zu sein. Du würdest erwarten, daß andere , die Polizisten, die Folter vollzögen. Daß du der Grausamkeit nicht zusehen müßtest. Doch wenn deine Gründe zwingende Gründe sind, dann sind es Gründe, aus denen auch du selbst zum Folterwerkzeug greifen könntest. Willst du das? Willst du werden wie O’Brien, der Winston dazu bringt, Julia zu verraten? Natürlich wären deine Motive ganz andere als bei ihm, aber der Mechanismus der Grausamkeit wäre der gleiche. Du mußt den Mann brechen , damit er redet. Du mußt seine Schmerzen und seine Angst so riesig werden lassen, daß sogar er den Widerstand aufgibt. Willst du das? Bist du zu dieser Grausamkeit bereit ? Du hast Nineteen Eighty-Four damals hinaus zur Mülltonne getragen. ›Ich sollte es verbrennen‹, sagtest du, ›damit diese Gedanken aufhören zu existieren. Man darf ihnen nicht erlauben zu existieren.‹«
»Ich bin selbst ein bißchen erstaunt über das, was ich gleich sagen werde, und vielleicht wird auch das etwas zwischen uns verändern: Ja, ich denke, ich würde es tun. Für unser Kind. Für jedes Kind in Angst und Verzweiflung. Und mit Orwell hat das nichts zu tun. Das Motiv ist ja wirklich ganz anders. Und das verändert auch die Natur der Grausamkeit. Natürlich ist es auch jetzt noch grausam zu foltern, da will ich mich nicht rausreden. Aber diese Grausamkeit ist nicht die von O’Brien, der ideologische Unterwerfung erzwingen will. Eher ist es die Grausamkeit der Notwehr: wie wenn ich dem Angreifer über mir die Kehle zudrücke. Es ist, könnte man sagen, stellvertretende Notwehr. Für das Kind.«
»Ich sehe da eine Einstellung am Horizont, eine gefährliche Einstellung, die ich ablehne: ›Würde ist eine noble, feine Sache, und wir sollten schon darauf achten. Aber wenn’s hart auf hart kommt, dann muß sie zurückstehen. Wenn es zum Beispiel darum geht, ein verängstigtes Kind zu retten. Sorry , aber so wichtig sind uns Folterverbot und Würde nun auch wieder nicht.‹ Und ich sage dir auch, warum mich das abstößt und empört, und scheue mich nicht, mich zu wiederholen: Die Würde des Menschen – das ist das höchste Gut, das letzte Heiligtum. Und weil das so ist, dürfen wir von den Prinzipien, die dieses Gut schützen, nicht abrücken. Auch
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