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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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trotzdem: Man setzt sie nicht absolut. Man weiß, daß es eine Perspektive von außen darauf gibt, aus der die Dinge anders aussehen würden. Und entsprechend: fehlende Würde als blinde Selbstbezogenheit. Gekränkte Eitelkeit als fehlender Sinn für die Proportionen. Humor als die Fähigkeit, sich kleinlicher Gekränktheit zu entziehen und beim Wichtigen zu bleiben.«
    Ein anderer Besucher kam gerade vom Sozialamt, einem Ort also, wo die Würde in Gefahr ist und alle spüren, wie zerbrechlich sie ist. Jemand hatte sich dort im Flur erbrochen. Das Erbrochene roch. Die anderen reagierten abweisend: Das geht mich nichts an. Sie setzten sich anderswohin oder machten ein Gesicht. Einer, ein gutgekleideter Herr mit Krawatte und glänzenden Schuhen, verschwand und kam nach einer Weile mit Eimer und Schwamm zurück. Er ging auf die Knie und wischte das Erbrochene auf. Er brachte den Eimer weg und setzte sich wieder auf seinen Platz, Schmutzflecke auf der Hose. Er nahm sein Buch und las weiter. »Was er tat«, sagte der Besucher, »hatte auch mit Würde zu tun. Er tat, was die Situation verlangte, ohne sich wichtig zu nehmen, ohne Selbstzufriedenheit, ohne auf Applaus zu warten. Würde als die selbstverständliche Bereitschaft, das Naheliegende zu tun. Ohne Rücksicht auf sich selbst. Verstehen Sie?«
    Auf komplizierten Umwegen führten die Gespräche über das Bild des leidenden Afrikaners manchmal noch zu einem anderen Thema: Selbstmitleid . Es kann uns stören, wenn sich jemand selbst bemitleidet. Warum? Der Anlaß können chronische Schmerzen sein, eine tödliche Krankheit, ein seelischer Verlust. Echtes Leid also. Sich zu bedauern, ist verschieden von dem natürlichen Wunsch, das Leid möchte nicht dasein. Dieser Wunsch gehört zum Leid, es wäre kein Leid ohne ihn. Das Selbstmitleid ist auch verschieden von der Verzweiflung darüber, daß das Leid vielleicht nie mehr verschwinden wird. Wenn andere von unserem Leid wissen, bedauern sie uns und zeigen dieses Bedauern. Sie leiden mit. Warum ist es anstößig, wenn auch wir selbst uns bedauern? Warum ist eine Empfindung, die bei den anderen als gut und edel gilt, zu kritisieren, wenn man sie auf sich selbst anwendet? Ist das nicht rätselhaft? Wir mögen als spontaner Ausdruck unseres Leids weinen. Später mögen wir über das beweinte Leid noch einmal weinen. Was ist anstößig an diesen zweiten Tränen? Man kann doch über das Leid und die Tränen des anderen weinen, die fremde Trauer kann eigene, echte Trauer hervorrufen. Warum also nicht Trauer über die eigene Trauer? Ist es, weil es scheinen kann, als sei das Leid nicht ernst genug, wenn es einem Kraft läßt, sich zu bedauern? Oder ist es gar nicht das Selbstmitleid als stille Einstellung, was abstößt, sondern der Gestus anderen gegenüber? Daß man damit etwas heischen will? Doch was ist anstößig daran, daß man das eigene Leid lindern möchte durch die Anteilnahme anderer?
    Oder ist es noch anders: Ist es gar nicht die Einstellung selbst, die wir kritisieren, sondern die Tatsache, daß diese Einstellung uns passiv macht und verhindert, daß wir uns um Abhilfe kümmern, entweder durch äußere Maßnahmen oder durch das Entwickeln einer neuen inneren Einstellung zum Leid? Die Kritik am Selbstmitleid wäre dann eine Kritik an mangelnder Selbständigkeit und damit auch an fehlender Würde. Und ist vielleicht auch dieser Vorwurf beigemischt: daß man in der Konzentration auf das eigene Leid den Sinn für die Proportionen verloren hat?

Vom Ende her gesehen
     
    Wenn der Tod das Ende allen Erlebens ist, dürften wir ihn nicht fürchten, denn fürchten kann man nur, was man erleben wird. Trotzdem sind wir zutiefst erschrocken, wenn man uns sagt, daß wir bald sterben müssen. Warum? Die Furcht kann die Furcht vor der Agonie des Sterbens sein. Sie kann aber auch die Furcht davor sein, sich im Leben verpaßt zu haben. Das ist die Furcht, nicht dasjenige gelebt zu haben, was einem eigentlich wichtig gewesen wäre, sondern anderes, was sich ergab und aufdrängte, ohne daß es unserem Gespür für das Wichtige ganz entsprochen hätte.
    Man muß nicht auf die Ankündigung des Todes warten, um dieses Bewußtsein für das Wichtige im eigenen Leben zu entwickeln. Man kann auch so in Gedanken zum Ende des Lebens vorlaufen und sich von diesem imaginären Ende her fragen, ob man die Dinge im Leben bisher richtig gewichtet hat. Es kann nicht darum gehen, jeden Tag so zu leben, als sei er der letzte. Das ist zwar eine bekannte und

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