Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Identifikation, sondern die Unfähigkeit, sie auch wieder zu lösen. Und so ist es immer. Ob wir einen Rausschmiß erleben oder eine Geschäftspleite: Wenn uns das länger verfolgt als nötig, leiden wir nicht nur unter dem Versagen und der Verletzung, sondern auch darunter, daß wir spüren: Es ist würdelos, daß mich das so beschäftigt. Und vielleicht sagen wir: Ich habe das Gleichgewicht verloren. Dann sollten wir das Bild hier auf dem Tisch betrachten.«
Je öfter ich mit den Besuchern im Büro über das Bild sprach, desto häufiger kam ich auf einen Begriff zu sprechen, der mich immer fasziniert hatte: Gleichmut . Es ist, als kreuzten sich in dem Begriff zwei Bedürfnisse. Das eine ist der Wunsch, nicht der hilflose Spielball der eigenen Affekte zu sein. Wir möchten nicht, daß uns Beliebiges aus der Fassung bringen kann. Wir möchten die Autorität darüber haben, was uns gefangennehmen darf und was nicht. Auf der anderen Seite spüren wir, daß es nicht um das stoische Ideal der Unberührbarkeit durch Affekte gehen kann. Darum, immer und überall gleichen Muts zu sein. Die Souveränität, die wir suchen, ist nicht mit Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit zu verwechseln, für die nichts mehr wichtig ist. Doch wie verbindet man beides: Empfindsamkeit und Sicherheit im Urteil über das Wichtige?
»Und sehen Sie«, pflegte ich dann zu sagen, »der Sinn für die Proportionen, von dem wir sprechen, gibt uns genau das: die Fähigkeit, in unserem Erleben ganz anwesend zu sein, ohne dadurch versklavt zu werden. Die Fähigkeit, die Affekte zu leben, ohne ihre Bedeutung ins Unermeßliche wachsen zu lassen. Umgekehrt ausgedrückt: Wir können uns von unseren Sorgen distanzieren und sie trotzdem ernst nehmen. Wir wissen und spüren, daß es Größeres und Wichtigeres gibt als das, was uns gerade beschäftigt, und trotzdem müssen wir nicht verleugnen, daß es uns beschäftigt. Und der Sinn, von dem ich spreche – ich nenne ihn nicht zufällig einen Sinn : Es ist kein abstraktes, bloß theoretisches Wissen von größeren Wichtigkeiten, das uns hilft, das Gleichgewicht zu wahren. Es ist ein sehr konkretes, spürbares Wissen, und es ist in den Affekten selbst gegenwärtig. Und der Gleichmut – er ist genau diese ausgewogene Verfassung. Klingt ein bißchen mystisch, nicht wahr? Aber ich kann’s nicht besser ausdrücken.«
Einer meiner Besucher im Büro zog Franz Kafkas Tagebücher aus der Tasche und las vor: »2. August. Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.« »Ja«, sagte ich, »das paßt. Ein Kriegsbeginn kann es lächerlich erscheinen lassen, daß einer, der davon weiß, zum Schwimmen geht. Aber es kommt eben darauf an, wie er hingeht. Ob ihm die Schwimmschule jetzt immer noch über alles geht, oder ob er spürt, daß es einen Sinn gibt, in dem es völlig gleichgültig ist, was er im Schwimmunterricht leisten wird. Wenn er es spürt, wird er über seine Leistungen trotzdem stolz oder enttäuscht sein. Das Wissen um den Krieg macht ihn nicht gefühllos. Aber die Gefühle werden aufgehoben sein im Bewußtsein, daß es andere Dinge gibt, die mehr zählen. Und so wird er nicht gleichgültig, aber ziemlich gleichmütig auf dem Beckenrand sitzen, ob er nun im Unterricht gut war oder schlecht.« Und etwas später fügte ich hinzu: »Der Sinn für die Proportionen schließt das Bewußtsein ein, daß es mehrere Dimensionen von Wichtigkeit gibt – die private, die berufliche, die politische zum Beispiel – und daß man sie nicht gegeneinander aufrechnen kann.«
Oft kamen wir auf die Frage zu sprechen, was die richtige Art sei, sich selbst ernst zu nehmen, ohne sich zu wichtig zu nehmen. Wir fanden es zum Verzweifeln schwierig, bei der Frage einen Fortschritt zu machen. »Ich stehe sechs Wochen vor dem Abschluß meiner Dissertation«, sagte der Doktorand. »Und in einem Jahr werde ich hier sitzen und Ihnen sagen: Ich stehe sechs Wochen vor dem Abschluß meiner Dissertation.« Wir lachten. »Ja«, sagte ich, » Selbstironie . Sich auf die Schippe nehmen können. Die Ironie – sie nimmt einer Sache dasjenige an Wichtigkeit, was zuviel ist, ohne alles durchzustreichen. Es gehört zur Würde, diese Art von Balance halten zu können. Überhaupt: Selbstironie als die Fähigkeit, die eigene Wichtigkeit in Frage zu stellen. Die eigenen Bewertungen insgesamt auf den Prüfstand zu stellen – wissend, daß sie nicht einfach abzuschütteln wären, denn sie gehören zur eigenen Identität. Und
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