Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
gibt noch innere Zensur, sie mag sogar besonders rigide sein, aber sie ist mehr ein Reflex als ein nachdenkliches Bewerten.
Wenn die Zeit fortschreitet, erleben wir an den anderen etwas, was uns wie eine Fragmentierung des Geistes vorkommt: Das Denken, Erleben und Wollen verläuft in sprunghaften Episoden, die nur noch zeitlich geordnet sind, nicht mehr dem Inhalt nach. Die Einheit des Bewußtseins scheint sich aufzulösen, so daß der Eindruck entsteht: Jetzt wird aus dem Ver fallen auch ein Zer fallen. Hat der andere noch Überzeugungen?, fragen wir uns. Gibt es noch etwas, was er glaubt ? Überzeugungen sind, was sie sind, kraft ihrer vielfältigen Verbindungen mit anderen Überzeugungen. Wenn diese Verbindungen brüchig werden – können wir dann noch sicher sein, daß in den Worten, die wir aus diesem Mund von früher kennen, ein Gedanke zum Ausdruck kommt? Oder sind es nur noch Gewohnheiten des Sagens? Und ähnlich mit dem Erleben, wenn es uns fragmentiert erscheint: Inwieweit ist es noch das Fühlen und Wollen, wie wir es kannten? Wird in dieser Innenwelt noch etwas entschieden ? Wie muß sich das Leben für den anderen anfühlen, jetzt, wo der innere Zusammenhalt der seelischen Episoden immer schwächer wird? Überhaupt: Wie ist es jetzt, der andere zu sein?
Bei Menschen, denen solche Dinge zustoßen, liegt manchmal ein Anflug von Leere auf dem Gesicht, ihr Blick scheint uns nicht mehr ganz zu erreichen, und das Lächeln hat etwas Verlorenes an sich. Wir sind unsicher, ob noch jemand zu Hause ist. Ob wir noch auf Antworten im Denken und Fühlen hoffen können, wie sie früher selbstverständlich waren. Ob wir uns noch in einer Begegnung verschränken und aus dieser Verschränkung heraus kommunizieren können. Es gibt noch den Austausch einfacher Informationen und einfache Antworten auf einfache Fragen. Kompliziertere Fragen, auch nach der Befindlichkeit und den Wünschen: Es ist, als verhallten sie ungehört – selbst wenn noch Worte zurückkommen. Das fremde Erleben wird immer weniger nachvollziehbar. Und weil wir es nicht verstehen, sind wir unsicher, ob wir es noch richtig machen mit diesen Menschen – richtig im Sinne ihres Erlebens –, oder ob wir aus Ratlosigkeit in unangemessenen, schematischen Reaktionen erstarren.
Auch Mary Tyrone aus O’Neills Stück, der wir im vierten Kapitel begegnet sind, ist dabei, sich durch ihre Morphiumsucht zu verlieren. Sie ist eine Sklavin der Droge, die man nicht mehr zum Guten beeinflussen kann. Ihre Versprechen und Schwüre sind schon lange nichts mehr wert. Sie hat aufgehört, für James eine Partnerin zu sein: Weil der Appell an die Vernunft und Einsicht nichts mehr fruchtet, weicht das Engagement aus der Beziehung. Damit verfärben sich auch die spontanen Gefühle, die nur in der engagierten Einstellung möglich sind. Sogar der Zorn über Unvernunft und Starrsinn wird unmöglich, denn er setzt voraus, daß der andere sich im Prinzip besinnen könnte. Und die Zerstörung durch die Droge nimmt ihren Lauf. In Marys Blick und Verhalten ist immer mehr Fremdheit. Sie ist immer weniger erreichbar und geht von Monat zu Monat entrückter durchs Haus. James und die Söhne erleben die Fragmentierung ihres Geistes. Was ihnen bleibt, ist nur noch die distanzierte Einstellung, der objektivierende Blick der Kranken gegenüber. Was die Sucht Mary genommen hat, ist die Würde als Partnerin. Nun ist es die Aufgabe der anderen, ihre Würde als Kranke und Verfallende zu sichern.
Was können wir uns vornehmen, um die Würde von Menschen, die sich verloren haben, zu verteidigen? Wir dürfen sie nie ganz abschreiben und dürfen ihnen nicht das Gefühl geben, daß wir sie überhaupt nicht mehr als Personen wahrnehmen. So lange wie möglich müssen wir sie als Selbständige behandeln und sie in der Fähigkeit herausfordern, Regie über ihr Leben zu führen – auch wenn das nur noch die kurzfristige Regie über Stunden und Tage ist. Wir müssen sie spüren lassen, daß es uns immer noch um ihre Selbständigkeit geht, auch wenn die jetzt immer öfter mißlingt. Ihre Sensibilität für den Respekt vor ihrer Selbständigkeit wird nie ganz erlöschen. Deshalb ist es auch für diejenigen, die sich schon weitgehend verloren haben, immer noch schrecklich, wenn sie wie Kinder angesprochen und behandelt werden. Ihre Würde zu verteidigen, heißt, einer solchen Behandlung entschieden entgegenzutreten. Es heißt auch, sie zu Wort kommen zu lassen – selbst wenn, was sie sagen, verschroben
Weitere Kostenlose Bücher