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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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charmante Redensart, aber sie ist nicht durchdacht: Es wäre dann kein kontinuierliches Leben möglich, das ja darauf beruht, daß wir unsere Tage mit lauter Dingen verbringen, die auf viele weitere Tage hin angelegt sind. Wenn man sein Leben vom Ende her betrachtet, um sich der eigenen Gewichtungen zu vergewissern, so kommt etwas in Gang, was langsam, umwegig und mühevoll sein kann: ein neuer Versuch, das eigene Leben zu verstehen und es an den Wünschen, wie sie nun ins Bewußtsein treten, zu messen.
    Dabei spielt eine Entdeckung eine Rolle, von der in der Geschichte dieses Buches früh die Rede war: daß es in einem Leben viel mehr an Gedanken, Gefühlen und Wünschen gibt, als die äußere Biographie zeigt. Und auch, als die innere, bewußte Biographie zeigt. Viele Motive unseres Tuns und auch viele Triebkräfte hinter unserem Erleben liegen im dunkeln. Es kennzeichnet ein Subjekt, daß es von der Existenz unbewußter, verborgener Motive weiß und von der Möglichkeit, sie ans Licht zu bringen und den Radius der Selbsterkenntnis nach innen zu vergrößern. Wenn man sein Leben vom Ende her betrachtet, wird man das Bedürfnis spüren, die Selbsterkenntnis zu erweitern. Sich zu fragen, was es alles war, was man sich zu leben verboten hatte, und warum. Sich zu fragen, was die verborgenen Leitlinien des Wichtigen waren, und woher sie stammten. Sich zu fragen, was für Richtungsänderungen noch möglich sind, und woher man den Mut dazu nehmen könnte. Die Antworten auf diese Fragen werden nicht jedesmal, wenn man vom Ende her denkt, dieselben sein. Der Prozeß des Fragens wird offen und lebendig sein, und er wird uns verändern. Und auch das ist eine Form der Selbständigkeit und Würde.

8.
Würde als Anerkennung
der Endlichkeit
     
    Durch Alter oder Krankheit kann es dazu kommen, daß wir unsere Selbständigkeit als Subjekte verlieren. Niemand nimmt sie uns weg. Es ist ein Prozeß des langsamen Verfalls. Am Ende sind wir auch keine Partner von Begegnungen mehr. Wir werden einsam, weil wir nicht mehr wissen, wie das geht: jemandem begegnen. Wir haben den Sinn für Intimität und Nähe verloren. Durch beides, die verlorene Selbständigkeit und die verlorenen Begegnungen, gerät die Würde in Gefahr. Und auch im letzten Verfallen eines Menschen, dem Sterben, geht es um Würde. Wie können wir uns die schwierigen und schmerzhaften Erfahrungen, die Menschen mit ihrem Verfall und ihrem Ende machen, zurechtlegen?

Wenn andere sich verlieren
     
    Es kann geschehen, daß Menschen, die zu unserem Leben gehören, nach und nach ihre früheren Fähigkeiten verlieren. Vieles, was dabei verlorengeht, bedeutet Leid, bringt aber die Würde nicht in Gefahr. Erblinden und taub werden, Lähmungen erleiden und zittern, gegen Schmerzen, Angst und Schwindel kämpfen müssen, so daß man das Haus nicht mehr verlassen kann: All das ist schlimm und manchmal unerträglich, aber es ist nicht aus sich heraus schon etwas, was die Würde zu bedrohen vermöchte. Zwar bedeutet es einen Verlust an Selbständigkeit und vielfältige Erfahrungen der Abhängigkeit, und manchmal wird die Abhängigkeit als Ohnmacht erlebt. Doch es liegt in unserer Hand, die anderen so zu unterstützen, daß sich die Ohnmacht nicht in Demütigung und eine Bedrohung der Würde verwandelt. Wir sind mit ihnen nach wie vor in engagierten Begegnungen verbunden, und die Verschränkung im Denken und Fühlen schreibt die frühere seelische Intimität fort. Der Verlust der Fähigkeiten bringt unser Verhältnis zu ihnen nicht ins Wanken.
    Anders erleben wir es, wenn die schwindenden Fähigkeiten die seelische Identität der anderen zerbröckeln lassen. Bis zum Erlöschen im Tod bleiben sie Zentren des Erlebens. Doch ein solches Zentrum kann seine innere Organisation nach und nach verlieren, und dann gibt es Lücken in der Stimmigkeit des Verhaltens. Solche Lücken bedeuten, daß wir das Tun immer weniger verstehen und immer weniger gut vorhersehen können. Die anderen sind auch jetzt noch Urheber von Handlungen, sie bleiben Täter, deren Tun Ausdruck ihres Erlebens ist. Doch ihr Tun wird kurzatmig und rhapsodisch, und die Geschichten, die wir von ihnen über die Motive hören, gelten nur kurze Zeit und sind manchmal in sich widersprüchlich. Wir werden unsicher, wieviel vom früheren Selbstbild noch übrig ist. Das Verständnis für die erlebte Vergangenheit und Gegenwart scheint dünner geworden zu sein, es gibt darin Risse, und die Reichweite des Zukunftsbewußtseins schrumpft. Es

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