Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Wir verbieten eine Wiederbelebung bei plötzlichem Herzstillstand.
All das kann auf Seiten des Arztes auf Widerstand stoßen. »Es ist meine Pflicht, alles zu tun, um Sie am Leben zu erhalten«, mag er sagen, »das gehört zu meinem ärztlichen Ethos, das auf den Schutz des Lebens als höchstes Gut ausgerichtet ist.« Wir erinnern ihn daran, daß jede medizinische Maßnahme bei einem entscheidungsfähigen Patienten dessen Zustimmung voraussetzt. Auf diese Weise ist die Würde des Patienten im Sinne seiner Selbständigkeit im Gesetz verankert. »Aber hier geht es um Ihr Leben!«, mag der Arzt sagen. »Eben«, werden wir antworten. »Gerade deshalb. Es ist mein Leben und mein Sterben, und wie es verläuft – darüber bestimme ich ganz allein. Es liegt mir fern, Ihr Ethos der Fürsorge und Lebenserhaltung geringzuachten. Aber Sie können dieses Ethos nicht einfach mit dem Wohl des Patienten gleichsetzen. Dieses Ethos findet an der Selbstbestimmung des Patienten seine Grenze. Wenn er sein Wohl darin sieht, daß man ihn jetzt sterben läßt, dann müssen Sie das respektieren. Sie müssen es schon rechtlich gesehen. Aber wichtiger ist mir: Sie müssen es aus Achtung vor seiner Würde. Wenn es Ihnen gelingen sollte, sich über seinen Willen hinwegzusetzen, so wäre das eine anmaßende Bevormundung, durch die Sie Ihre eigene moralische Würde verlören.«
Nun kann es vorkommen, daß wir durch einen Unfall oder ein Geschehen im Körper in ein Koma fallen. Was kann das für den Respekt vor unserem Willen, für unsere Würde und für das Handeln des Arztes bedeuten? Entscheidend wird der Grad der Beschädigung sein: Gibt es nach dem medizinischen Befund eine Chance, daß der Patient zurück ins Bewußtsein findet und dann wieder selbst entscheiden kann, was mit ihm geschehen soll? Oder sind die Gehirnströme vollständig erloschen, so daß er nie wieder ein Zentrum des Erlebens und Entscheidens sein wird? Im ersten Fall sind die Dinge klar: Wir tun alles, um ihn am Leben zu erhalten und ihm so die Möglichkeit zu geben, als Subjekt des Erlebens und Handelns zurückzukommen. Das verlangen sowohl der Schutz seines Lebens als auch die Achtung vor seiner Würde. Zwischen diesen beiden Gesichtspunkten gibt es hier keinen Konflikt. Und auch wenn der Kranke seinen Willen im Moment nicht kundtun kann: Wir sind sicher, in seinem Sinne zu handeln.
Schwieriger liegen die Dinge, sowohl für das Denken als auch für das Fühlen, wenn wir sicher sind, daß derjenige, der da unter künstlicher Beatmung vor uns liegt, als Erlebender nie mehr zurückkommen wird, weil die Gehirntätigkeit, die unzweifelhaft die Voraussetzung für jedes Erleben ist, vollständig erloschen ist. Wir können uns vorstellen, daß Bernhard Winter dieses Schicksal erleidet. Der Unfall geschieht, als Sarah verreist ist. Am nächsten Tag ist sie mit ihm allein im Krankenzimmer. Es ist still, nur das Keuchen des Beatmungsgeräts ist zu hören. Bernhard sieht aus, als könnte er jederzeit erwachen. Sie berührt seine Hand, fährt ihm übers Haar. Sie sieht den Hebel, mit dem das Gerät abzustellen wäre. Sie weiß, was er dazu gedacht und gesagt hat. Sie weiß es genau. Trotzdem möchte sie ihn in Gedanken noch einmal sprechen hören. Hier geht es nicht, die Stimme will nicht kommen. Sie fährt nach Hause und setzt sich dem Sessel gegenüber, wo er über solche Dinge zu sprechen pflegte.
»Wenn wir beatmet und ernährt werden, obwohl wir nie wieder zu uns kommen und etwas erleben werden, so ist dieses künstliche Weiterleben eine leere körperliche Mechanik. Noch dazu eine unselbständige Mechanik, eine, die sich nicht mehr selbst trägt. Da es kein Subjekt mehr gibt, ist es ein Weiterleben, das niemandem mehr gehört , es ist ein vollständig entfremdetes Weiterleben. Bei einem Menschen, anders als bei einer Pflanze, haben die biologischen Funktionen ihre Bedeutung und Wichtigkeit dadurch, daß sie ein Zentrum des Erlebens, ein Subjekt, hervorbringen. In dem Fall, von dem wir sprechen, haben sie diese Wichtigkeit verloren. Wenn man sie trotzdem weiterführt, dann als Funktionen ohne Innenperspektive – als Leerlauf. Ich stelle mir vor: Ich spüre, daß meine Kräfte schwinden und daß mein Erleben bald erlöschen wird. Plötzlich überfällt mich die Angst: Ich werde noch Jahre weiterernährt und beatmet. Es ist ein Vorgang, der mit mir, der einstmaligen Person, nichts mehr zu tun hat. Mein Körper – er ist doch nachher gar nicht mehr mein Körper, er ist
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