Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
niemandes Körper mehr, einfach nur noch ein biologisches System. Wo vorher ein Körper mit einer Innenseite des Erlebens war, ist jetzt nur noch eine bloße Hülle , die nie mehr etwas anderes sein wird als eine Hülle. Es ist aber nicht irgend eine Hülle, sondern meine in dem Sinne, daß sie einst mich als erlebendes Subjekt hervorbrachte. Deshalb ist es mir jetzt, wo ich mich noch erlebend dazu verhalten kann, nicht gleichgültig , daß sie gespenstisch weiter am Laufen gehalten wird. Ich will, daß das aufhört . Ich möchte nicht, daß das von mir übrigbleibt. Und diesen Wunsch gilt es zu respektieren. Es ist der Respekt der einstmaligen Person gegenüber, zu deren Integrität das Wechselspiel von körperlichen Funktionen und Erleben gehörte. Es ist eine Frage der Würde.«
Manchmal hatte Bernhard hinzugefügt: »Die Würde des Menschen besteht auch in seiner Bereitschaft, Tod und Sterben zu akzeptieren. Sich nicht mit allen Mitteln dagegen zu wehren. Eigentlich verrückt, daß man sich gegen Leute wappnen muß, die einen in dieser Frage bevormunden wollen. Und ausgerechnet gegen Ärzte, die doch ständig sehen, wie menschliches Leben zu Ende geht. Was ist das bloß für eine merkwürdige, ja eigentlich verrückte Vorstellung, daß das Weiterleben des Körpers das oberste Ziel darstelle – ganz gleich, ob noch jemand in ihm zu Hause ist oder nicht. Da wird Ariel Sharon und anderen seit Jahren der natürliche Sterbeprozeß vorenthalten: Ich finde das monströs, ich finde es inhuman . Eine krasse Verletzung seiner Würde.«
Am nächsten Tag geht Sarah mit Bernhards Patientenverfügung, in der er für diesen Fall alle lebensverlängernden Maßnahmen verbietet, in die Klinik und verlangt, daß die Geräte abgestellt werden.
»Ich werde Herrn Winter nicht töten«, sagt der Arzt.
»Sie töten ihn nicht, wenn Sie abstellen. Sie lassen ihn sterben . Warum tun Sie, als kennten Sie diesen Unterschied nicht?«
»Unsere Aufgabe ist es, Leben zu schützen, nicht zu beenden.«
»Aber doch nicht das Leben seelenloser Körper , sondern das Leben von Personen .«
»Für mich als Arzt, der den hippokratischen Eid abgelegt hat, ist der Schutz des menschlichen Lebens das höchste Gut.«
»Das höchste, unantastbare Gut ist die Würde eines Menschen. Der Kern dieser Würde ist nicht der Schutz des Lebens, sondern die Selbstbestimmung. Sie wollen meinem Mann den Prozeß des natürlichen Sterbens vorenthalten, den er sich für seine jetzige Lage gewünscht hat. Sie wollen gegen seinen unmißverständlichen Willen verstoßen und ihn für diese letzte Episode seines Lebens entmündigen. Das ist anmaßend. Es verstößt gegen seine Würde. Ich bin durch das, was er verfügt hat, nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet , seinem Willen Geltung zu verschaffen. Und wie Sie wissen: Das Gesetz ist auf meiner Seite.«
Der Arzt sieht sie herausfordernd an. »Aber selbst abschalten – dazu wären Sie sicher nicht bereit.«
»Doch«, sagt Sarah.
Auf dem Flur wird sie von einer Frau angesprochen, deren Sohn im gleichen Zustand ist wie Bernhard.
»Ich komme jeden Tag zweimal hierher, um nach dem Rechten zu sehen«, sagt sie. »Das Personal – man weiß ja nie. Manchmal liegen die Kissen nicht ganz richtig. Es soll ihm an nichts fehlen.«
»Er spürt nichts mehr«, sagt Sarah. »Wird nie mehr etwas spüren. Warum lassen Sie ihn nicht sterben? Er hat ein Recht darauf.«
»Aber er ist mein Leben ! Hierherzukommen und nach ihm zu sehen – das ist mein Leben !«
»Worum geht es Ihnen? Um ihn oder vor allem um sich selbst?«
Der Frau hat es die Sprache verschlagen. Verstört und wütend blickt sie Sarah nach.
In einem ihrer Gespräche hatte Sarah zu Bernhard gesagt:
»Nehmen wir den umgekehrten Fall an: Jemand verfügt, daß er trotz unumkehrbarer Beschädigung, die ihn als Subjekt des Erlebens vernichtet hat, weiterhin am Leben gehalten werden will. Daß man ihn auf keinen Fall sterben lassen darf. Was machen wir dann? Kann er sich nicht genauso auf seine Würde durch Selbstbestimmung berufen wie du?«
»Er kann sich auf seine Selbstbestimmung berufen, und wir werden ihm zuhören. Aber es gibt Unterschiede. Der eine: Ich will, daß man etwas mit meinem gefühllosen Körper nicht mehr macht. Er will, daß wir diesen Körper endlos beatmen und ernähren. Er mutet den anderen etwas zu, was ich ihnen nicht zumute. Er möchte über die anderen und ihr künftiges Tun bestimmen, ich nicht. Und die Sache wird noch dadurch
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