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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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in der sie sich ausdrückt, sind aus einem Guß.

Abhängigkeit: bitten und betteln
     
    Willy Loman, der Vertreter in Arthur Millers Theaterstück Tod eines Handlungsreisenden , ist sechzig, erfolglos und müde. »Früher konnte er in Boston sechs, sieben Abschlüsse am Tag machen«, sagt Linda, seine Frau. »Jetzt holt er die Koffer aus dem Auto und lädt sie wieder ein und holt sie wieder raus, und er ist erschöpft … Er fährt siebenhundert Meilen, und wenn er ankommt, kennt ihn niemand mehr.« Loman kann nicht mehr und geht zu Howard, seinem Chef, um ihn um eine Versetzung in den Innendienst zu bitten.
    Was ist das für eine Situation, wenn man um etwas bitten muß? Was für Erfahrungen können daraus entstehen? Und was haben sie mit Würde zu tun?
    Zu bitten heißt, einen Wunsch zur Sprache zu bringen, und jemanden aufzufordern, einem bei der Erfüllung zu helfen. Bitten schafft also eine Situation, in der einem geholfen wird. Damit ist das Eingeständnis verbunden, daß man in dieser Sache keine Selbständigkeit besitzt: Man ist abhängig und auf andere angewiesen . Es liegt nicht in der eigenen Macht, das Bedürfnis zu befriedigen, es liegt in der Macht eines anderen. Loman kann sich nicht selbst in den Innendienst versetzen, das kann nur Howard. Howard hat die Macht über ihn, und deshalb ist es von Beginn an eine Situation, die die Gefahr in sich birgt, daß Loman Ohnmacht empfindet.
    Auf Hilfe angewiesen zu sein, bedeutet, für sich genommen, noch keine Gefährdung der Würde. Sonst gäbe es Würde nur für den Starken, der niemandes Hilfe braucht. Wovon hängt es ab, ob Hilfsbedürftigkeit die Würde gefährdet?
    Das eine, wovon es abhängt, ist die Natur der Beziehung , die es zwischen mir, dem Bittsteller, und demjenigen gibt, der die Bitte erfüllen oder ablehnen kann. Es ist leicht, wenn der Helfende fremd ist und bloßer Funktionsträger staatlicher Hilfe. So ist es auf dem Sozialamt. Es ist bedrückend, mit der Nummer in der Hand auf dem schäbigen Korridor zu sitzen. Aber es ist wichtig, genau zu sein in den Empfindungen. Es ist eine Kränkung , daß ich da sitzen muß. Vielleicht war ich als Ingenieur oder Geschäftsführer tätig, oder ich bin Privatdozent mit einer langen Liste von Veröffentlichungen. Und nun sitze ich hier und muß Sozialhilfe beantragen. Ich bin in meinem Stolz und meiner Eitelkeit verletzt. »Mann, ist das demütigend, entwürdigend!«, mag ich sagen. Und ich mag mich an diesen Worten berauschen, denn sie geben mir die Möglichkeit des wohltuenden Selbstmitleids und der entlastenden Empörung. Aber es sind die falschen Worte. Niemand führt mich als ohnmächtig vor, niemand legt es darauf an, mich meine Ohnmacht spüren zu lassen. Wenn ich nachher dem Mann hinter dem Schreibtisch gegenübersitze, so habe ich nicht jemanden vor mir, der mich aus purer Willkür heraus demütigen kann. Ich muß es mir nicht bieten lassen, sollte er sagen: »Ach, Sie schon wieder!« Die Hilfe liegt nicht in seinem Ermessen, ich habe einen Anspruch darauf, und er muß sie gewähren. Meine Würde ihm gegenüber liegt in meinem rechtlichen Status als Bürger dieses Landes.
    Vielleicht schickt er mich zum Säubern eines Parks. Ich finde mich also eines Morgens im Park, den Rechen in der Hand. Ich sehe meine früheren Kollegen im blitzenden Wagen zur Arbeit fahren, mittags im teuren Restaurant sitzen. Sie grüßen aus der Ferne, leutselig. Was genau sind meine Empfindungen? Da sind natürlich Neid und Enttäuschung, vielleicht auch Groll und Wut, denn die anderen können ja weniger als ich, das Ganze ist ungerecht, und ich hadere mit den Umständen. Mit Würdeverlust hat es nichts zu tun. »Es ist unter meiner Würde«, werde ich mir vielleicht sagen und erwägen, auf die Unterstützung zu pfeifen. Doch so geläufig die Formulierung auch ist: Sie ist irreführend. Das Rechen entspricht nicht meinen Fähigkeiten, ich muß mich sozusagen unter meinem Wert verkaufen, und das ist kränkend. Und wenn es lange so weitergeht, wird mich vielleicht Verzweiflung überkommen, denn ich erlebe es als entfremdend. Es ist ein Unglück und kann zu einem großen, vielleicht vernichtenden Unglück werden. Aber eine Erfahrung verlorener Würde ist es nicht. Und das hat vor allem damit zu tun, daß da niemand ist, der mich mit seiner Macht und Willkür in die Ohnmacht stürzt, dabei grinst und darauf achtet, daß ich es sehe.
    Von ganz anderer Art ist die Beziehung Lomans zu Howard, seinem Chef. Howard hat es ganz

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