Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
allein in der Hand, Lomans Bitte zu entsprechen oder sie abzulehnen. Er hat die Macht, und Loman hat keine Möglichkeit, einen Anspruch geltend zu machen. Als Loman eintritt, ist Howard damit beschäftigt, sein neues Tonbandgerät anzuschließen, damals der letzte Schrei und damit ein Statussymbol derer, die oben sind.
HOWARD: Hallo, Willy! Komm rein.
LOMAN: Hätte gern mal mit dir geredet, Howard.
HOWARD: Entschuldige einen Augenblick; bin gleich für dich da.
LOMAN: Was ist das, Howard?
HOWARD: So was noch nie gesehen? Ein Tonbandgerät.
LOMAN: Oh. Hast einen Moment Zeit?
HOWARD: Nimmt Töne auf. Gestern erst geliefert worden. Macht mich ganz verrückt.
Howard läßt das Gerät laufen, die Stimmen seiner Kinder sind zu hören, und seine ganze Aufmerksamkeit gilt diesen Stimmen. Willy, der seine Bitte um ein Gespräch nun schon zweimal geäußert hat, ist nur Publikum für die Vorführung der Wundermaschine, sonst ist er gar nicht vorhanden. Mitten in das Pfeifen des Mädchens hinein, das aus der Maschine kommt, nimmt Loman einen dritten Anlauf:
LOMAN: Möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten, wenn du …
Und einen vierten:
LOMAN: Das ist ein fabelhafter Apparat. Können wir …
Daß Howard all diese Anläufe von Loman ins Leere gehen läßt, ist eine Demütigung durch Demonstration von Macht: Zuerst komme ich und meine tolle Maschine … Und eine Demonstration von Ohnmacht: Du kannst es so oft versuchen, wie du willst – wann es zu einem Gespräch über dein Anliegen kommt, bestimme ganz allein ich.
Warten müssen, bis der andere Zeit hat, ist nicht an und für sich schon eine Situation der Demütigung. Sie ist es dann nicht, wenn es nachvollziehbare Gründe gibt, entweder für mich direkt sichtbar oder in der Situation zu vermuten: Warten auf dem Amt , Warten auf den Arzt, Warten auf den Handwerker. Zwar wird hier eine Abhängigkeit sichtbar und erlebbar, aber eine, die nicht von einer Demonstration der Macht begleitet ist, von einer Willkür, der ich ohnmächtig ausgeliefert bin. Und vor allem nicht die Demonstration einer genossenen Ohnmacht. Auch wenn Schlamperei und Faulheit das Warten bedingen, führt das noch nicht zur Erfahrung einer Demütigung, sondern nur zu Frustration und Ärger. Es bedarf der gezielten Willkür: die Arzthelferin, die mich warten läßt, weil sie gerade ein offensichtlich privates Telefongespräch führt; der Angestellte auf dem Amt, der herauskommt, abschließt und dann draußen eine raucht, während meine Zeit verrinnt; die Sicherheitsleute am Flughafen, die mich ohne jeden Anlaß die Schuhe ausziehen lassen, um sie durchs Röntgengerät zu schicken. Die Botschaft: Du hängst von meinem Willen ab. Dann wird aus gewöhnlichem Ärger genau die Art von Wut, die aufsteigt, wenn man uns ohne Grund und mit Genuß unsere Abhängigkeit vor Augen führt. Ich habe einen gesehen, der aus dieser Wut heraus ohne Schuhe ins Flugzeug ging. Es war für ihn – man konnte es an der Körpersprache erkennen – eine Frage der Würde. Einer, der es auch gesehen hatte, trat zu dem Mann und gratulierte ihm. Niemand fand es lächerlich.
Die Willkür ist bei Howard offensichtlich: Das Tonband könnte warten. Indem er es vorführt, führt er seine Lust vor, und das Perfide an der Szene: Er führt ein Vergnügen vor, das Loman sich nie würde leisten können. Dazu Hohn: »Kostet nur hundertfünfzig. Muß man einfach haben.« Als Bobby Fischer 1972 in Reykjavík gegen Boris Spassky um die Schachweltmeisterschaft spielte, war in einem Geschäft ein Ferrari ausgestellt. Fischers Leute fanden heraus, daß Spassky jeden Tag lange vor dem Schaufenster stand. Fischer kaufte den Wagen und fuhr damit vor.
Aus Lomans Bitte um ein Gespräch ist ein Betteln geworden. Wie wird aus einem Bitten ein Betteln?
Es hat mit Wiederholung zu tun: Die einmalige Bitte hat nicht gereicht, Loman muß sie wiederholen. Doch es ist nicht der rein zeitliche Aspekt des Wiederholens, des wiederholten Bittens. Die zweite Bitte und jede folgende, weil sie als erneute erlebt wird, wird anders erfahren: Sie steht im Schatten der Erinnerung, daß die vorherige ohne Antwort blieb. Die Notwendigkeit des Wiederholens wird von Loman als Ohnmacht erlebt, als Demütigung: Howard läßt ihn spüren, daß ihre Beziehung nicht so ist, daß eine einzige Bitte reicht, und daß er die Macht hat, jede erneute Bitte zu ignorieren. Der Übergang vom Bitten zum Betteln wiederholt sich, als es Loman schließlich gelingt, seine Bitte
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