Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Fabulierens, und jedes Selbstbild ist ein Konstrukt von zweifelhafter Wahrhaftigkeit, voll von Irrtümern, Selbstüberredung und Selbsttäuschung.
Wenn wir anderen begegnen, wissen wir also, daß uns in dem, was sie erzählen, keine unverfälschte Wirklichkeit des Erlebens entgegentritt, sondern eine Darstellung von Motiven, die durch die Interessen von innerer Zensur und Selbstbild vielfach gebrochen ist. Das macht jede Begegnung zu einer unsicheren, offenen und wandelbaren Erfahrung. Das wird sie auch durch das Wissen, daß es bei den anderen, wie bei uns selbst, viele Motive des Tuns gibt, die im dunkeln liegen und dem Erleben unzugänglich bleiben, manchmal für immer. Vieles an einer Begegnung geschieht von Unbewußt zu Unbewußt.
Wenn sich zwei Menschen mit ihren Motivgeschichten vertraut machen, ist es, wie wenn sie sich miteinander verschränkten : Sie bekommen eine Bedeutung füreinander, und die Begegnung wirkt auf beide zurück. Dabei verschränken sie sich in ihrem Erleben auf vielfältige Weise. Einmal, was ihre Gedanken anlangt: Wir denken über die Gedanken der anderen nach und darüber, was sie über unsere eigenen Gedanken denken mögen. Das schafft, könnte man sagen, eine gedankliche Intimität zwischen uns. Auch in unseren Gefühlen und Wünschen können wir uns verschränken: Wir haben Angst vor der Angst des anderen, in der die Angst vor unserer eigenen Angst mitschwingt. Unsere Begierde wird durch die Begierde des anderen angefacht, die unserer eigenen Begierde gilt. Und wir können wünschen, der andere möge Wünsche haben, die unseren eigenen Wünschen gelten. Je mehr sich unser Erleben auf diese Weise mit dem fremden Erleben verschränkt, desto größer ist die seelische Intimität zwischen uns. Sie kann die Intimität von Freunden sein oder von Feinden. Diese Intimität ist der Stoff, aus dem Begegnungen zwischen Subjekten gemacht sind.
Die gedankliche und sonstige Verschränkung, die Subjekte erfahren, ist auch das, was ihrer Fähigkeit zur Kommunikation zugrunde liegt. Ich kommuniziere nicht schon dadurch, daß ich ein Zeichen und eine Botschaft aussende. Sie können ungehört verhallen. Die anderen müssen sie aufnehmen und verstehen. Dafür genügt es nicht, daß sie dahinter einen Willen erkennen. Der Wille muß einer sein, den sie als auf sich und ihre Gedanken gerichtet erkennen: Sie müssen denken können, daß ich will, daß sie in dem Zeichen und der Botschaft meine Absicht erkennen, ihnen etwas zu verstehen zu geben. Jetzt erst verstehen sie, daß ich etwas zu ihnen gesagt habe. Es ist nicht so, daß Begegnungen entstehen, weil Leute miteinander reden. Es ist umgekehrt: Leute können nur miteinander reden, weil sie sich begegnen können – weil sie die Art von Verschränkung erleben können, die echte Kommunikation erst möglich macht.
Als Subjekte können wir uns noch auf andere Weise miteinander verschränken: indem wir uns vorstellen, wie es wäre, in der Lage des anderen zu sein. Es muß nicht dabei bleiben, daß wir uns die fremde Erlebnisgeschichte aus neutraler Distanz heraus anhören. Wir können den Versuch machen, sie nachzuvollziehen und uns zu fragen, was wir in der fremden Lage erleben würden. Würden wir auch Angst, Neid oder Eifersucht empfinden? Den Impuls spüren wegzulaufen, anzugreifen oder uns zu verkriechen? Es wird Dinge geben, die nicht nachvollziehbar sind und eine Grenze der Fremdheit bedeuten. Auch sind wir nie sicher, ob es für den anderen in jener Situation wirklich so ist, wie es für uns wäre. Doch wenn wir uns, geleitet von unserer sozialen Phantasie, in die anderen einfühlen, entsteht durch diese Art des Erkennens eine zusätzliche Intimität der Begegnung.
Engagement und Distanzierung
Wenn wir jemandem begegnen, so geschieht es oft, daß wir im Tun und Erleben spontan auf ihn antworten : Was er tut und erlebt, macht für uns einen Unterschied, das Treffen ist eine Episode, die uns mitnimmt und verändert. Die Begegnung bekommt dadurch eine erhöhte Temperatur. Wenn wir erleben, daß man uns so antwortet, werden wir auf diese Antwort reagieren. Das, was wir dabei an innerer Veränderung erleben, spielen wir zurück, und das wiederum wird den anderen verändern. In diesem Sinne sind wir nun verwickelt in das Leben des anderen. Es entsteht eine Hitze der Wechselseitigkeit. Es handelt sich um eine engagierte Begegnung.
Eine engagierte Begegnung bedeutet eine Erfahrung der Nähe : Es läßt einen nicht kalt, was der andere tut und
Weitere Kostenlose Bücher