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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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mehr erwidert, man gibt ihm das Gefühl, daß sie unerwünscht sind und daß man das Bedürfnis nach Nähe, das darin zum Ausdruck kommt, nur noch lästig findet. Zwar gibt es noch Gespräche im Sinne des Austauschs von Informationen und der Regelung praktischer Dinge. Als Erlebender jedoch wird er nicht mehr angesprochen. Dazu gehört, daß die anderen jede Anstrengung der einfühlenden Phantasie abgebrochen haben. Die Würde als einer, der solche Phantasie als etwas Selbstverständliches erwarten kann, ist ihm genommen worden. Das fühlt sich an wie innerer Frost.
    Wenn eine solche Distanzierung mich selbst trifft, fröstle ich unter den neuen Blicken des anderen. Es sind Blicke wie die eines Verhaltensforschers: kühl, analytisch, unbeteiligt. Doch es ist nicht nur das fehlende Engagement, das schrecklich ist. Noch eine andere Erfahrung läßt mich erschrecken: Es ist, als gerinne ich in meinem Erleben unter diesem verfremdenden Blick. Nicht, daß der Blick mich als Zentrum des Erlebens auslöschen könnte. Ich bleibe auch als Objekt des unbeteiligten Blicks ein Subjekt. Doch wenn ich den kühlen, einstmals engagierten Blick auf mir spüre, ist es, als drohte sich mein Subjektsein jeden Moment in ein gegenständliches, verdinglichtes Geschehen zu verwandeln. Ich weiß: das ist unmöglich. Doch der Blick enthält die Drohung, und das gegenteilige Wissen vermag ihr den Schrecken nicht zu nehmen.
    Wenn sich jemand auf diese Weise von mir distanziert, kann es gar nicht anders sein, als daß er mir damit auch meine Ohnmacht zeigt. Ich kann den anderen nicht dazu zwingen , das Engagement wiederaufzunehmen. Der andere entgleitet mir, die Beziehung entgleitet mir, und dagegen kann ich nichts tun. Jeder Versuch, es zu erzwingen, treibt den anderen noch weiter fort, und ich erlebe mich als einer, der sich lächerlich macht. Jede Anstrengung, im Erleben wieder Verbindung aufzunehmen, wird ignoriert, als habe sie gar nicht stattgefunden. Es ist eine Ohnmacht wie bei einem, der in eine tote Leitung hineinruft: »Hört mich denn niemand?!« Diese Ohnmacht spürend kann ich um das Engagement betteln. Jetzt sind es nicht einzelne Gefühle wie die, um die Bernhard Winter an jenem Abend im Krankenzimmer bettelt, als seine Frau ihn bloß abliefert. Jetzt ist es die Beziehung, also das Engagement insgesamt . Die Gefahr, daß man dabei die Würde verspielt, ist noch größer als bei Bernhard Winter.
    Die distanzierende Zerstörung einer Begegnung ist also zwangsläufig eine Demonstration von Ohnmacht. Damit ist sie im Ansatz eine Demütigung. Sie kann triumphierend geschehen oder von Bedauern begleitet sein. Aus Wut oder als Vergeltung kann ich es genießen, den anderen in die Fremdheit zu stoßen, und ich kann ihm auch zeigen, daß ich es genieße. Ich blicke ihn triumphierend an: »Sieh her, es ist jetzt nicht mehr wie früher – es berührt und bewegt mich nicht mehr, was du tust und fühlst. Du bist mir gleichgültig – und ich bin so froh über diese Gleichgültigkeit! Und ich will, daß du sie siehst, diese Gleichgültigkeit!« Dann ist es Demütigung im vollen Sinne der demonstrierten und genossenen Ohnmacht. Oder ich sage: »Es geht nicht mehr, ich muß mich vor dir schützen und aufhören, dir im Inneren zu antworten. Du läßt mir nur diese eine Wahl: Einfrieren und Gleichgültigkeit.« Auch das läßt den anderen ohnmächtig zurück, und auch gedemütigt im Sinne des Zurückstoßens. Doch die Vernichtung seiner Würde durch den triumphierenden Genuß seiner Ohnmacht bleibt ihm erspart.
    Es gibt noch eine weitere Stufe des Rückzugs aus einer engagierten Begegnung: der Blick, der im anderen einen Kranken sieht. Ich sehe ihn weiterhin als ein Zentrum des Erlebens, in diesem Sinne bleibt er für mich Subjekt. Doch anderes, was zu einem Subjekt – wie wir es beschrieben haben – gehört, fehlt: die Stimmigkeit im Denken und Fühlen, die Verständlichkeit des Tuns, ein erkennbares Selbstbild, die Fähigkeit, sich erkennend und bewertend mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Das ist der Grund für meinen Rückzug. Jetzt betrachte ich den anderen nicht mehr ohne weiteres als Täter, als Urheber eines stimmigen Tuns. Eher ist er für mich wie der Schauplatz eines rätselhaften inneren Geschehens. Das Bizarre in seinem Verhalten hat mich zu diesem Perspektivenwechsel gezwungen. Die Einstellung des Begegnens ist unmöglich geworden. Es gibt nichts mehr zu erwarten und einzuklagen. Er ist im vollen Sinne kein Selbständiger

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