Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
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Es ist schwer zu sagen, was das für die Würde bedeutet. Für mich, der ich den anderen nun mit dem objektivierenden Blick eines Arztes betrachte, ist es noch am ehesten klar: Ich muß darauf achten, daß ich ihn nicht für immer abschreibe und daß ich in die engagierte Perspektive zurückfinde, wenn die Stimmigkeit in seiner Person zurückkehrt. Meine eigene Würde verlangt dann, daß ich ihm die seine als selbständige Person zurückgebe. Wie mag es für ihn selbst aussehen? Es kann geschehen, daß jemand als Folge einer schleichenden Tablettenvergiftung die Distanz zu sich selbst und seine ganze Stimmigkeit verliert, so daß man ihm Demenz oder eine psychotische Erkrankung andichtet. Jetzt begegnet er nur noch den neugierigen, verfremdenden Blicken von Ärzten. Weil kein echter Zusammenbruch geschehen ist, sondern nur eine verwirrende Eintrübung, hat der Patient das Gefühl für seine Würde nicht verloren – so tief ist dieses Gefühl in uns Menschen verwurzelt. Aus diesem Gefühl heraus muß er es als vernichtend erleben, daß man ihn behandelt, als habe er jede Form von Selbständigkeit und Stimmigkeit für immer verloren. »Ich bin für sie zu einem bloßen Geschehen geronnen, zu einem Rinnsal aus ungelenken Empfindungen«, wird sein Gefühl ihm sagen. Wie wird es in ihm aussehen, wenn die Medikamente ihm auch dieses Empfinden noch verbaut haben?
Die Übergänge zwischen den Stufen eines distanzierenden Rückzugs sind fließend, und es kann zu einem Fluktuieren kommen. »Du brauchst eine Therapie«, wird man vielleicht eines Tages zu einem anderen sagen, mit dem man in großer Nähe gelebt hat. »Du brauchst Hilfe – eine Art Hilfe, wie ich sie dir nicht geben kann. Sonst kommst du von deiner Sucht nicht los.« Es ist ein gefährlicher Moment, und zu einem Gefühl der Demütigung ist es nicht weit. Was wir sagen, ist: »Ich möchte weiter mit dir zusammenleben, und ich möchte, daß es eine Begegnung bleibt, die sich weiterentwickelt. Ich möchte das gemeinsame Leben nicht beenden, und ich lasse dich auch nicht im Stich und flüchte mich nicht in Gleichgültigkeit.« Das ist das Engagement. Zugleich gibt es eine Distanzierung: »Ich bin am Ende mit meinem Latein und erschöpft. Ich brauche eine Pause. Es muß jemand übernehmen, der dir sachkundige Hilfe geben kann.« Und es kann sein, daß wir hinzufügen: »Die Würde verlangt das, die Würde der Einsicht, deine Würde, die Würde unserer Beziehung.« Und dann hoffen wir, daß das nicht als Demütigung erlebt wird, die das Ende bedeutet.
Anerkennung
»Ich hab’ dieser Firma vierunddreißig Jahre geopfert, Howard, und heute kann ich nicht mal meine Versicherung bezahlen! Du kannst die Zitrone nicht auspressen und dann die Schale wegwerfen – ein Mensch ist doch kein Abfall!« Das sind die Worte, die Willy Loman, der Handlungsreisende, seinem Chef entgegenschleudert, als der ihm kündigt. Er ist wütend, und seine Wut entspringt der Angst vor einer Zukunft ohne Geld. Doch noch viel mehr ist sie eine Wut darüber, daß er nach allem, was er für die Firma getan hat, einfach auf die Straße gesetzt wird. »Er hat ihnen ungeahnte Märkte für ihre Ware erschlossen«, sagt Linda, seine Frau, »und jetzt, wo er alt wird, streichen sie ihm den Lohn.« Loman ist empört, weil er in die Armut gestürzt wird. Doch hinter dieser Empörung steckt eine, die noch tiefer geht: die Empörung über fehlende Anerkennung. »Er darf nicht ins Grab fallen wie ein alter Hund. Anerkennung! Anerkennung schulden wir einem solchen Menschen am Ende«, sagt Linda. Miller schreibt attention , Aufmerksamkeit. Und das ist natürlich ein Teil von dem, worum es hier geht: Man darf Loman nach seiner lebenslangen Leistung nicht einfach achtlos behandeln und übersehen, er verdient es, daß man ihm Aufmerksamkeit widmet und würdigt, was er geleistet hat. Man könnte sagen: Er verdient unsere Achtung , oder auch: unseren Respekt . Doch es gibt dafür einen Begriff, der stärker und reicher ist: Anerkennung . Was genau ist das?
Es beginnt damit, daß wir zur Kenntnis nehmen , was jemand geleistet hat. Das können Leistungen im Arbeitsleben sein, wie bei Loman. Es können auch andere Leistungen sein: Kinder klug und hingebungsvoll erziehen, eine Krankheit, einen Verlust, eine Gefangenschaft mit Haltung überstehen, die Mühe eines schmerzhaften Reifungsprozesses auf sich nehmen. Anerkennung heißt zunächst: die Leistung sehen und richtig gewichten. Das Gegenteil ist:
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