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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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erlebt. Es ist einem nicht gleichgültig. Es muß dabei nicht um angenehme, einvernehmliche Dinge gehen. Es gibt engagierte Begegnungen in der Wut und im Haß: Man hat sich in eine Begegnung mit dem unverschämten Nachbarn oder dem verhaßten Chef verstrickt, das schafft Nähe, auch wenn es die Nähe der Feindschaft ist. Doch daneben gibt es all die leidenschaftlichen Verstrickungen der Begierde, der Sehnsucht und des Vermissens. Und die vielfältigen Formen und Schattierungen der Anteilnahme in Freude und Leid. Immer geht es darum, daß ich den anderen in seinem Erleben und Tun ernst nehme. Dazu gehört, daß ich aus der Nähe und Temperatur einer Beziehung heraus bestimmte Reaktionen erwarte und einklage . Engagierte Begegnungen bringen deshalb Enttäuschungen mit sich: Manchmal passen die Antworten des anderen nicht zu den Erwartungen, welche die Begegnung von meiner Seite aus definierten. Dann entstehen Empfindungen von Verletzung, Groll, Ärger und Haß. Sie entstammen dem Engagement und sind Belege für die empfundene Nähe. Vorwürfe gibt es nur, wo es Engagement gibt.
    Wenn Erwartungen und mögliche Vorwürfe erlöschen, erlischt eine Beziehung als engagierte Begegnung. Was übrigbleibt, kann man eine distanzierte Begegnung nennen. Solche Begegnungen gibt es ungezählte: auf der Straße, im Bus, beim Einkaufen, auf Ämtern. Es sind Begegnungen mit Fremden. Unsere Leben berühren sich innerlich nicht. Diese Distanz bringt keine Erfahrung gefährdeter Würde mit sich: Es gab nie etwas anderes als die distanzierte Begegnung. In Gefahr kann die Würde nur dann geraten, wenn die Distanz in einer Begegnung durch einen schmerzlichen Rückzug aus einem früheren Engagement entsteht.
    Es gibt verschiedene und verschieden grausame Stufen eines solchen Rückzugs. Eine erste: Ich reagiere äußerlich nicht mehr. Das kann aus Klugheit geschehen, es kann ein taktisches Manöver sein. Es kann geschehen, um mich zu schützen, etwa gegen Wut oder Vorwürfe: Ich stelle mich tot. Die hitzige Verflechtung wird aufgelöst, der gewohnte Fluß des Verhaltens unterbrochen. Der Atem der Beziehung stockt, auch im Erleben. Eine Variante davon: Ironie und Sarkasmus. Zwar agiere ich jetzt weiter, aber nicht mehr als Gefangener des Engagements, sondern als einer, der die Dinge wie ein scheinbar Unbeteiligter mit vorgetäuschtem Amüsement kommentiert. All das ist noch verträglich damit, daß meine inneren Antworten so sind wie früher. Ich verstelle mich, bluffe und spiele den Unbetroffenen. Um Stärke zu zeigen oder als paradoxer Angriff. Den anderen kann das wütend machen, und auch ein Gefühl der Ohnmacht mag dabeisein: Dieser Teufel! Läßt mich einfach auflaufen! Doch die Würde ist nicht in Gefahr, und das liegt daran, daß der andere aus der Situation heraus weiß: Hinter der Fassade ist das Engagement noch da.
    Die nächste Stufe bedeutet einen dramatischen Bruch: Ich antworte auch im Inneren nicht mehr. Die Gefühle bleiben still und stumm. Kein Ärger mehr, keine Wut, keine Enttäuschung, kein Groll. Das ist nur möglich durch einen inneren Rückzug, der grausam ist: Der andere ist kein Partner mehr. Ich spreche noch mit ihm und bleibe in diesem Sinne mit ihm verschränkt. Doch die Verschränkung ist dünner geworden, abstrakter, denn sie hat die Dimension des gefühlten Antwortens verloren. »Laß ihn doch reden!« Die frühere Verflechtung und Verstrickung, die das Engagement ausmachte, ist aus der Beziehung verschwunden. Es ist wie ein Wechsel der Perspektive: Ich sehe ihn jetzt ganz anders. Ich nehme ihn noch ernst in dem Sinne, daß ich mit ihm rechne : Er ist mir noch gegenwärtig in seiner Kompetenz, als cleverer Gegner zum Beispiel; aber nur noch so. Darüber hinaus habe ich die Begegnung aufgekündigt. Ich bin ausgestiegen.
    Der andere kann das als Angriff auf seine Würde erleben. Zwar wird er noch als Selbständiger behandelt. Diese Würde bleibt unberührt. Die Würde als Partner in einer Begegnung dagegen wird ihm genommen. Zwar vergißt man nicht, daß er weiterhin ein Zentrum des Erlebens ist, ein Subjekt. Doch man kümmert sich nicht mehr um ihn als einen, auf dessen Erleben man antworten könnte. Er wird zurückgestoßen, in seinem Tun wie in seinem Empfinden. Seine Hilfe und seine Großzügigkeit, sein Opfer und sein Verzicht finden keine Antwort mehr, und auch mit seinen Gefühlen läßt man ihn ins Leere laufen. Er wird es wie Schattenboxen erleben. Zuneigung, Anteilnahme, Trauer und Wut: Sie werden nicht

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