Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
zustande, und sie kommt auch zustande, wenn jemand ausgepfiffen wird und mit einem Ausdruck der Wut, Empörung oder Verachtung antwortet. Daß eine Begegnung stattfindet, verhindert, daß sich diejenigen, die sich hingestellt haben, nur ausgestellt und dadurch in ihrer Würde verletzt fühlen. Der zwergwüchsige Mensch dagegen wird als menschliches Spielzeug und kurioses Wurfgeschoß nur besichtigt . Er zeigt dem Publikum nichts, während er geschleudert wird. Es ist der Werfende, der etwas zeigt. Entsprechend sind die Blicke, die auf den Geworfenen fallen, keine bewundernden Blicke, sondern Blicke von Leuten, die sich an einem Kuriosum ergötzen. Bloßer Gegenstand und bloßes Mittel des Ergötzens sein – das ist es, was die Würde gefährdet.
Sie wird zusätzlich dadurch gefährdet, daß das Ergötzen nicht nur dem Wurf gilt, sondern der Tatsache, daß der Geworfene diese ungewöhnliche Körperform hat. Würden gewöhnlich gewachsene Kinder geworfen, kämen weniger Leute. Was hier ausgestellt und ergötzend besichtigt wird, ist nicht nur ein Menschenwurf, sondern der Wurf eines Menschen, der so ungewöhnlich aussieht, daß man es als Makel empfinden kann. Und es ist nicht nur so, daß man ihn wirft und er außerdem den Makel der ungewöhnlichen Körperform hat. Es ist anders: Die Veranstaltung lebt davon, daß er geworfen wird, weil er diesen Makel hat. Das gibt der Veranstaltung und dem Würdeverlust eine zusätzliche Dimension der Grausamkeit.
Auf einem anderen Jahrmarkt, dem meiner Jugend, gab es Zelte, in denen sich mißgebildete Menschen zur Schau stellten: die dicke Bertha, eine Frau von einem Körperumfang, den man nicht für möglich gehalten hätte; ein Mann, dessen Hände sechs Finger hatten; siamesische Zwillinge. In diesen Zelten herrschte eine sonderbare Wortlosigkeit und Stille. Und es waren, meine ich, zwei verschiedene Dinge, die den Zuschauern die Sprache verschlugen: auf der einen Seiten die abstoßenden Mißbildungen selbst, auf der anderen die Tatsache, daß sie für Geld zur Schau gestellt wurden. »Daß man so etwas zuläßt!«, sagte meine Mutter nachher. »Und wir sind reingegangen und haben es uns angeschaut!«, sagte ich.
Wer sich die dicke Bertha anschaut, tut es aus Sensationslust, und der sensationsgierige Blick des Publikums nimmt der Frau die Würde: Sie wird angeglotzt als ein monströses Ding, ein unfaßbarer Haufen Menschenfleisch. Die Situation ist eine andere, wenn mißgebildete Menschen in einer medizinischen Vorlesung vorgeführt werden. Es wird auch hier ein Element der Sensationslust auf den Bänken des Hörsaals geben. Doch die Situation ist anders definiert als im Jahrmarktzelt: Es geht um Lernen und Ausbildung – darum, Studierende mit Erscheinungen vertraut zu machen, die als Krankheiten, also Formen des Leids, vorgeführt werden, die zu behandeln und zu lindern sind. So wird die Situation den vorgeführten Patienten auch erklärt, und offiziell wird niemand dazu gezwungen, sich mit seinem Makel Hunderten von Augenpaaren darzubieten. Trotzdem erleben es manche Patienten als eine Gefährdung ihrer Würde. »Ich war nichts weiter als ein Demonstrationsobjekt !«, sagte ein verkrüppelter Mann nachher zum Professor. »Es war zu einem guten Zweck«, war die Antwort. »Trotzdem«, sagte der Mann, »all diese Blicke!« Ein anderes Mal wurde eine schrecklich aufgedunsene Frau mit verfärbter Haut und warzigen Wucherungen vorgeführt: Wir sollten mit dem Krankheitsbild der Elephantiasis vertraut gemacht werden. Der Professor hatte gerade zu sprechen begonnen, da stand die Frau auf und schleppte sich hinaus. Es wurde unheimlich still im Hörsaal, nur die schlurfenden Schritte waren zu hören. Die Vorlesung wurde nicht fortgesetzt. Die kranke Frau, einmal aus dem Krankenhaus entlassen, verließ ihre Wohnung nicht mehr. Einige Zeit später beantragte sie bei einer Organisation, daß man ihr beim Selbstmord helfe. Sie fühle sich immer so ausgestellt , sagte sie – sogar wenn niemand zugegen sei.
Auch in psychiatrischen Vorlesungen werden Menschen vorgeführt und ausgestellt, dieses Mal wegen eines seelischen Makels. Es wird an ihnen demonstriert, wie einer ist, der die räumliche und zeitliche Orientierung oder die Stimmigkeit seines Denkens und Fühlens verloren hat. Es gibt Fangfragen, Fallen und Tricks. Unter den Blicken der Studierenden wird das Leid zu einem klassifizierbaren Defekt . Und auch hier gerät die Würde durch die Schaustellung in Gefahr. Die Gefahr ist im
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