Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
sich wehren: Er zögert den fiktiven Besuchstermin der fiktiven Fleischhändler hinaus, und als sie ihn schließlich erfahren hat, muß er sich zwingen, sie nicht zu warnen.
Nach dem Überfall und Abels Festnahme sitzen sie sich gegenüber. Lilli glaubt, Felix vor sich zu haben, den Bankier, den sie ausgenutzt hat. »Das war ich. Ich hab’ ihnen …« beginnt sie. »Ich weiß«, unterbricht er sie. »Ich weiß es deshalb, weil ich nicht Felix heiße. Und ich bin auch kein Bankier. Ich bin Polizist. Polizist. « Ungläubig, fassungslos schüttelt Lilli den Kopf und bricht zusammen.
Die Wahrheit ist eine einzige Demütigung für sie: Sie war der ohnmächtige Spielball von Max’ Strategie. Indem er ihr sagt, wer er wirklich ist, läßt er sie ihre Ohnmacht erkennen. Zu einer Demütigung im vollen Sinne würde gehören, daß Max beim Anblick ihres Entsetzens grinst. So ist es im Film nicht, und es ist deshalb nicht so, weil die vorgetäuschte Begegnung mit Lilli dabei war, sich in eine echte Begegnung zu verwandeln. Max weiß nicht wohin mit seinem Blick, auch er selbst verliert jetzt den Boden unter den Füßen. Man hat den Eindruck, daß er in sich eine Würdelosigkeit erlebt, von der im vierten Kapitel die Rede sein wird: die Würdelosigkeit des Fälschers und Betrügers.
Vor der Demütigung, die im Bewußtsein der Ohnmacht besteht, kann er Lilli nicht bewahren. Weil er ihr diesen Schutz nicht geben kann, versucht er wenigstens, ihre Verhaftung wegen Mitwisserschaft zu verhindern. Als der zuständige Kollege es trotzdem versucht, erschießt er ihn. Aus dem Polizeiwagen heraus trifft sich sein Blick mit demjenigen von Lilli: ein Blickwechsel zwischen zweien, die ihre Würde aus verschiedenen Gründen und auf unterschiedliche Weise verloren haben.
Wie läßt sich Lillis Entsetzen beschreiben, als sie die Wahrheit erfährt? Worüber genau ist sie entsetzt?
»Du hast mich von Anfang bis Ende nur benutzt «, könnte sie zu Max sagen, »du hast mich manipuliert wie eine Marionette . Und mir dadurch die Würde genommen.«
»So ist es nicht«, könnte sich Max verteidigen. »Eine Marionette wird von außen bewegt, man zieht an den Fäden, sie hat keine Innenwelt, sie überlegt, fühlt, will und entscheidet nichts. Bei dir war das doch ganz anders. Du konntest auf das, was ich tat und zu dir sagte, mit deinen ganz eigenen Gedanken und Gefühlen reagieren, du konntest überlegen, abwägen und dich schließlich dazu entscheiden, Abel zu dem Überfall zu verleiten und ihm das Datum zu nennen. Niemand hat dich dazu gezwungen . Du selbst wolltest es! Niemand hat dir die Freiheit der Entscheidung genommen. Im Unterschied zu einer Marionette, über die andere bestimmen, konntest du über dich selbst bestimmen. Du warst frei in dem, was du tatest, und du warst frei in dem, was du wolltest, denn du konntest über deinen Willen durch dein Überlegen bestimmen. Ich habe beobachtet, wie du Abel aus dem Café anriefst. Du hast gezögert und es dann doch getan. Das war deine freie Entscheidung. Von Marionette kann also keine Rede sein. Und deshalb kann auch keine Rede davon sein, daß ich dir deine Würde genommen hätte.«
»Trotzdem: Du hast mich die ganze Zeit über nur ganz kalt beobachtet , wie ein Insektenforscher. Und ausgerechnet hast du mich. Ich war nichts weiter als eine Figur in deinem Plan, deinem Kalkül. Es ging dir in keinem einzigen Moment um mich selbst . Auch auf diese Weise kann man jemandem die Würde stehlen.«
Doch auch gegen diesen Vorwurf hat Max eine Verteidigung. »Zugegeben: Ich habe dich auszurechnen versucht. Doch das tun wir ständig mit vielen Menschen, ohne damit ihre Würde zu beschädigen. Geschäftsleute versuchen, ihre Kunden auszurechnen. Politiker versuchen, ihre Wähler auszurechnen. Sportler versuchen, ihre Gegner auszurechnen. Nehmen sie ihnen schon allein dadurch die Würde? Ist eine Schachpartie eine würdelose Veranstaltung, nur weil die beiden Gegner ununterbrochen damit beschäftigt sind, einander auszurechnen? Und auch bei den Menschen, die uns nahestehen, ist es so, daß wir sie ausrechnen in dem Sinne, daß wir aus dem, was wir über ihre Gedanken, Gefühle und Wünsche wissen, darauf schließen, was sie tun werden. Wie ich bei dir. Und nicht nur ist das nicht schlimm und würdelos, es ist gut : Wir müssen füreinander berechenbar sein, um überhaupt zusammenleben zu können.«
Lilli hat ihr Ziel weder mit der Metapher der Marionette noch mit dem Vorwurf des ausrechnenden,
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