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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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strategischen Verhaltens erreicht. Das war noch nicht das Entscheidende an der Idee der Manipulation, und es war noch nicht der Kern unserer Intuition, die besagt, daß Max Lillis Würde beschädigt hat. Lillis nächster Versuch kommt der Sache näher:
    »Du hast mir eine Falle gestellt. Du hast mich belogen und getäuscht . Du hast mir eine Scheinwelt vorgegaukelt: die Welt von Felix, seiner Wohnung, seinem Reichtum, seiner Bank und den großen Zahlungen. Nichts davon war wahr. Jemanden auf diese Weise durch Täuschung zu etwas zu verleiten: Das ist Manipulation. Es macht den Getäuschten zu einem ohnmächtigen Opfer, das sich seiner Ohnmacht außerdem erst nachträglich bewußt zu werden vermag.«
    »Der Elfmeterschütze schickt den Torwart durch Antäuschen in die falsche Ecke; jeder Schachspieler stellt Fallen; in der Werbung und in Wahlkämpfen wird gelogen und getäuscht, was das Zeug hält. Damit verglichen war mein kleines Märchen harmlos. Von verletzter Würde kann keine Rede sein.«
    »Es kann davon sehr wohl die Rede sein. Fußball und Schach – das sind Spiele, Täuschungsmanöver sind erlaubt und gehören zu ihrem Reiz. Werbung und Wahlkampf – das ist etwas anderes, da nehmen wir die Täuschung übel, und der Groll ist in dem Maße groß, in dem es um viel geht. Wenn man uns mit Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand lockt, und dann zettelt die Regierung einen Krieg an – dann sind wir empört, und die Empörung ist, abgesehen vom Leid, das wir zu erdulden haben, auch eine Empörung darüber, daß wir uns als Manipulierte in unserer Würde verletzt fühlen. Wir sind auf der ganzen Linie in die Irre geführt worden: in dem, was wir glaubten, was wir fühlten und was wir wollten. Wir fühlen uns nicht nur in einer kleinen Hinsicht getäuscht, sondern als ganze Personen manipuliert. Und so war es auch in dem, was du dein ›kleines Märchen‹ nennst: Du hast mich in dem manipuliert, was ich glaubte, in dem, was ich fühlte, und in dem, was ich wollte. Du hast mich insgesamt manipuliert. Die Selbstbestimmung und die Freiheit der Entscheidung, die du mir vorhin vorgerechnet hast: Die sind doch überhaupt nichts wert, wenn man in ein Gespinst aus Lügen und Täuschungen verwickelt wurde!«
    Lilli berührt hier einen Zusammenhang, von dem im vierten Kapitel die Rede sein wird: den Zusammenhang von Würde und Wahrhaftigkeit. Warum ist es nicht nur ärgerlich und kränkend, wenn wir in wichtigen Dingen belogen und getäuscht werden? Warum fühlen wir uns darüber hinaus in unserer Würde verletzt? Es hat damit zu tun, daß wir mit unseren falschen Überzeugungen, unseren trügerischen Gefühlen und unseren imaginären Wünschen ins Leere laufen : Wir verlieren die Verankerung in der Wirklichkeit, taumeln ohne es zu merken, und im Rückblick erkennen wir: Wir sind nicht ernst genommen worden. Wir hatten als Person für den anderen überhaupt keine Bedeutung und kein Gewicht .
    Begegnungen, die auf Lüge und Täuschung aufgebaut sind, sind keine echten Begegnungen und eigentlich überhaupt keine Begegnungen. Der trügerische Partner belügt uns nicht nur über den Lauf der Dinge, sondern auch darüber, daß er uns als gleichwertig sieht und anerkennt. Auch die vorgespielte Symmetrie und Gegenseitigkeit entpuppt sich als bloße Fata Morgana. »Es ging dir nie um mich und es ging dir auch nie um uns «, könnte Lilli sagen. »Was bist du für ein schäbiger, würdeloser Falschspieler!« Auch das kann man in dem Blick lesen, den sie Max am Ende ins Polizeiauto hinein zuwirft. Zusammen mit dem Erstaunen über seine Tat, die verrät, daß es da trotz allem auch eine Art echter Begegnung gab, oder doch die Bereitschaft dazu.

Verführen
     
    »Du selbst wolltest es!«, sagt Max zu Lilli. »Ja, aber du hast mich dazu verführt !«, könnte Lilli antworten. Das ist ein neuer Vorwurf und eine neue Lesart von Manipulation: jemanden manipulieren, indem man ihn zu etwas verführt. Wenn Max sie dazu verführt, den Überfall in Gang zu setzen, so geschieht es im Rahmen seines Täuschungsmanövers. Trotzdem ist die Verführung etwas anderes als die Täuschung. Man kann jemanden verführen, ohne ihn zu täuschen. Worin besteht eine Verführung, und warum kann sie die Würde in Gefahr bringen?
    Es hat mit einem Aspekt von Selbstbildern und innerer Zensur zu tun, den ich bisher noch nicht beschrieben habe. Das Bild von uns selbst und der bewertende, zensierende Standpunkt, der zu ihm gehört, sind nicht losgelöst vom

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