Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
restlichen Strom unseres Erlebens. Sie stehen ihm nicht losgelöst und unberührbar gegenüber. Sie sind im Laufe einer Lebensgeschichte unter vielfältigen Einflüssen aus diesem Strom entstanden und können durch ihn auch verändert werden. Jenseits dieses ganzen Geschehens gibt es nicht noch einen weiteren Standpunkt in uns, den Standpunkt des kühlen, stillen Regisseurs, der im dunkeln sitzt und die Fäden im gesamten seelischen Drama zieht. Was wir sind, wird vollständig bestimmt durch unser Erleben und Tun, durch die Perspektive des Selbstbilds und durch das komplexe Wechselspiel zwischen beidem.
Das wissen wir, und deshalb wissen wir, daß wir über das, was mit uns geschieht, keine vollständige Kontrolle besitzen. Wir kennen die Erfahrung, daß sich die Innenwelt rebellisch und unkontrollierbar jeder Zensur widersetzen kann; wir wissen, wie wankelmütig, bestechlich und zerbrechlich Selbstbilder sind; und wir haben die Erfahrung gemacht, daß wir uns im Laufe der Zeit von früherem Erleben und früheren Selbstbildern weit entfernen können, ohne daß wir dabei immer die Hand am Steuer hätten. Und trotzdem: Wir beanspruchen eine gewisse Autorität , wenn es darum geht, uns zu verändern. Keine imaginäre Autorität, die von einem inneren Hochsitz aus operierte. Eine Autorität vielmehr, die darin besteht, daß sich die Dinge in uns nicht ohne unser Zutun verändern. Wenn die bisherige Zensur sich lockert und Wünschen Raum gibt, die bisher verbannt waren, so soll das nicht hinter unserem Rücken und ohne unser Wissen geschehen. Wir wollen dabei sein, wenn es geschieht. Es soll nicht so sein, daß sich die Zensur ganz von selbst lockert und die Dinge in uns ins Rutschen geraten wie bei einem Erdrutsch. Wir wollen die Erfahrung machen können, daß wir es sind, die die Zensur lockern: daß wir die innere Umgestaltung bemerken, uns ein Urteil darüber bilden und sie, wenn nötig, auch aufhalten können. Und so ist es auch, wenn es nicht um die Zensur durch das Selbstbild geht, sondern um eine Veränderung des ganzen Selbstbilds. Wir wissen, daß dabei auch Kräfte im Spiel sind, über die wir nicht verfügen. Doch es würde uns verstören, hätten wir nicht das Gefühl, an diesem Prozeß selbst auch beteiligt zu sein. Das Selbstbild mit seinem bewertenden Standpunkt ist etwas, was aus einem reflektierenden, kritischen Abstand zu uns selbst entstanden ist, und wir wollen diese innere Distanz beibehalten, wenn wir die Sicht auf uns selbst verändern. Auch hier wollen wir dabei sein. Und auch hier geht es uns um eine Art von Autorität: Wir möchten in dieser Sache, die in gewissem Sinne unsere wichtigste Sache ist, gehört werden. Wenn jemand diese Autorität in Gefahr bringt, bringt er unsere Würde in Gefahr.
Das trügerische Drama, in das Max Lilli verwickelt, bringt in ihr vieles ins Rutschen. Bisher war sie der Star, die Queen in einer Clique von Leuten gewesen, die sich damit abgefunden hatten, kleine Brötchen zu backen. Sie wohnte mit Abel zusammen, verdiente aber auf dem Strich ihr eigenes Geld. »Ich bin unabhängig, Monsieur«, sagt sie wütend, als Max sie nach einem Zuhälter fragt. Und später: »Mein Job ist genausoviel wert wie deiner.« Und dann kommt Felix daher, der Bankier, der sie auffordert, sich vom Stapel der Banknoten so viel zu nehmen, wie sie möchte. Felix, der so anders ist als Abel und die Kumpel auf dem Schrottplatz. Ein Mann, der das Glück in die eigenen Hände genommen hat und reich geworden ist. Ein Mann mit Schwung, ganz anders als Abel, der ohne Perspektive und ohne Plan auf dem Bett liegt und raucht. Ein Mann auch, der sich für sie und ihre Erwartungen ans Leben zu interessieren scheint, wenngleich ganz anders als die Kunden und auf rätselhafte Weise. Das weckt in Lilli Wünsche: nach mehr Geld und mehr Selbständigkeit, vielleicht nach einem anderen Mann und überhaupt nach einem anderen Leben. Und diese Wünsche münden am Ende in den Wunsch, Abel möge Felix’ Bank überfallen. Ehemals zensierte Wünsche und Empfindungen passieren nun die Zensur, und Lillis Selbstbild hat sich verändert.
Sie spricht – so haben wir uns vorgestellt – von einer Verführung . Was kann sie damit meinen? Wir können Max’ Täuschungsmanöver beiseite lassen und uns vorstellen, daß er wirklich Felix ist, der Bankier. Es könnte sein, daß Felix, was Lillis wachsende Begehrlichkeit anlangt, überhaupt keine Absichten hat und keinen Plan verfolgt. Er läßt sie das viele Geld sehen,
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