Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
spricht von den Fleischgroßhändlern und der Versicherung, und im übrigen spielt und plaudert er mit Lilli – alles wie im Film, nur ohne Lüge und ohne Plan. Dann könnte man, was geschieht, keine Verführung nennen. Vielleicht möchte jemand sagen, daß die Begegnung mit Felix für Lilli eine Verführung darstellte, oder auch, daß sie sich von den Umständen verführen ließ. Aber es wäre falsch, Felix einer Verführung zu bezichtigen.
Zu einer Verführung im strengen Sinne gehört eine Absicht : der Vorsatz, in jemandem das innere Kräfteverhältnis von latenten Wünschen und Zensur zu verändern oder sein Selbstbild ins Wanken zu bringen, so daß er nun etwas tut, was vorher nicht denkbar war. Verführung ist ein Angriff auf die innere Balance, die durch das Selbstbild gehalten wird.
Lassen wir Felix eine solche Absicht haben. Er sieht, wie Lilli vor den anderen und vor sich selbst tut, als sei sie zufrieden mit dem, was sie hat. Doch er spürt auch, daß die Zufriedenheit nur zum Schein besteht und daß Lilli genug hat von Strich und Schrottplatz. Man kann jemanden nur verführen, wenn man an einen lauernden Wunsch anknüpfen kann. Lillis verschwiegene Unzufriedenheit ist das, woran Felix anknüpft. Seine Absicht könnte sein, einem gehaßten und verachteten Filialleiter einen Schreck zu verpassen. Oder vielleicht ist er einfach neugierig und will sehen, wie weit Lilli geht. In beiden Fällen ist die Absicht eigennützig : Es geht ihm nicht um sie, sondern um sich selbst.
Lilli könnte Felix, dem echten Bankier, sagen, was sie auch Max sagte: Du hast mich benutzt. Könnte sie ihm auch vorwerfen, ihre Würde beschädigt zu haben? Wenn meine begriffliche Geschichte stimmt und die Würde in dem verankert ist, was ich die Autorität der Person nannte, kann Lilli diesen Vorwurf nicht erheben. Felix hat ihr diese Autorität nicht genommen. Lilli war wach und bei sich, als die Dinge sich zu verändern begannen. Sie war dabei. Sie konnte innehalten und sich besinnen , was sie wollte. Als sie zwischen der Clique und Felix hin und her pendelte, konnte sie spüren, wie Abels Passivität sie mit einemmal mehr störte als zuvor, und wie der Ekel vor den Kunden wuchs. Sie begann, sich Dinge auszumalen, und sie wußte von diesen Träumereien. Sie war über sich selbst auf dem laufenden und konnte selbst entscheiden, wie weit sie gehen wollte: wie weit sie die Zensur lockern und zulassen wollte, daß sich ihr Selbstbild veränderte. Es fand eine Verführung statt, weil Felix bei Lilli planvoll und eigennützig die Möglichkeit für eine innere Umschichtung schuf. Aber es fand keine Vernichtung ihrer inneren, kritischen Distanz zu sich selbst und keine Vernichtung ihrer Autorität statt. Und deshalb kann man sagen: Ihre Würde blieb unangetastet.
Es gibt Verführungen, wo das anders ist: wo der Verführer planvoll eine innere Dynamik in Gang setzt, welche die bisherige Zensur auflöst und das Selbstbild bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es könnte sein, daß Felix nicht Lilli verführt, sondern Abel, der im Film wegen eines vermeintlichen Totschlags zehn Jahre in der Fremdenlegion verbracht hatte. Vielleicht spürt Felix, was es in diesem Mann an verborgenen Traumata gibt, und beschließt, sie sich zunutze zu machen, um einen Feind aus dem Weg zu räumen. Er könnte ihn mit Geld verführen und mit einem ganz neuen Lebensstil, mit dem Ausdruck von Wertschätzung und Vertrauen, wie Abel sie nie gekannt hatte, vielleicht auch mit Drogen und sogar mit einer körperlichen Beziehung, die in ihm auf verborgene Wünsche trifft. All das könnte dazu führen, daß Abel Felix hörig wird, und am Ende wäre gar nicht mehr viel nötig, um ihn zu einem Mord mit Symbolkraft zu verleiten, der vor allem in seiner Innenwelt Bedeutung hätte und mit dem er sich für eine längst vergangene Demütigung rächte. Es wäre eine Geschichte, in der sich jemand, ohne es recht zu merken, immer weiter von sich entfernt, eines Tages schrecklich ernüchtert in einer Gefängniszelle aufwacht und merkt, daß er einer Verführung erlegen ist, die seine ganze Autorität im Umgang mit sich und seinem Leben nach und nach aufgelöst und schließlich insgesamt vernichtet hat. Lilli konnte innehalten und sich besinnen. Bei ihr hatte die Verführung diese Fähigkeit nicht angetastet. Anders bei Abel, wie wir ihn uns jetzt vorstellen. Was Max mit ihm macht, hat genau diese Wirkung: Irgendwo auf seinem gefährlichen Weg verliert er die Fähigkeit innezuhalten
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