Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
Vom Netzwerk:
und sich zu besinnen. Und es ist dieser Verlust, der seine Würde in Gefahr bringt. »Du hast mich verführt und mir meine ganze Würde genommen, du Schuft!«, könnte er zu Felix sagen. Und die Würde, von der er spräche, könnte man als das Recht verstehen, in seinem Selbstbild und dessen Autorität respektiert zu werden. Es könnte sein, daß sich Felix’ Gesicht zu einem Grinsen verzieht: Er läßt Abel spüren, wie er seine Ohnmacht, an der er seit Monaten gearbeitet hat, genießt. Alle Bedingungen für eine Demütigung im vollen Sinne des Worts wären erfüllt.

Überwältigen
     
    Ich kann jemanden für etwas begeistern: für eine Landschaft, eine Sprache, eine Musik, eine Sportart, aber auch für eine Idee wie diejenige der Gerechtigkeit, oder für ein Gefühl wie dasjenige der Dankbarkeit einem Gott gegenüber, oder schließlich für eine ganze Lebensform, eine klösterliche zum Beispiel, oder eine des politischen Engagements. Ich kann jemanden dazu bringen, für etwas zu brennen und dieser Leidenschaft alles andere unterzuordnen. Wir können solche Dinge miteinander machen, weil wir in unserem Erleben plastisch und formbar sind: Es steht – abgesehen von elementaren Bedürfnissen – nicht von vornherein fest, sondern entwickelt und wandelt sich durch den Einfluß anderer Menschen – durch das, was wir von ihnen sehen, hören oder lesen.
    All das hat nichts mit Manipulation zu tun, sondern mit Lebendigkeit: Ohne diese Formbarkeit durch fremden Einfluß gäbe es keine lebendigen Begegnungen, sondern nur ein Leben spröder, steifer Transaktionen. Nicht einmal mit Verführung in dem früher besprochenen Sinne hat es zu tun: Die neue Sehnsucht braucht nichts zu sein, dem man gegen ein Selbstbild und eine innere Zensur zum Durchbruch verhilft – sie kann ganz neu entbrennen und sich mühelos in ein Selbstbild einfügen.
    Doch die Plastizität von Menschen in ihrem Erleben kann auch im Sinne der Manipulation mißbraucht werden. So ist es, wenn der Einfluß, statt arglos und spontan zu geschehen, einem Plan entspringt, dessen Ziel Macht, Zwang und Unterordnung ist. Nun geht es jemandem darum, mich für seine Ziele einzuspannen und mich zu diesem Zweck nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meiner ganzen Innenwelt gefügig zu machen: Ich soll nicht denken, fühlen und wollen, was mir entspricht, sondern was ihm nützt. Das geht nur, wenn er mir die Möglichkeit der Gegenwehr nimmt und mich überwältigt .
    Es gibt eine breite Skala solcher Überwältigung. Am sanften, harmlosen Ende stehen gewisse Spielarten der Werbung: Versuche, den Leuten Wünsche einzureden, die sie von sich aus nicht hätten, und ihnen Dinge aufzuschwatzen, die diese Wünsche erfüllen. Es geht um nicht mehr als Waren und Vergnügungen, und die Werbung selbst beraubt uns nicht der Gegenwehr: Wir können ihr mit kritischer Distanz begegnen, sie ignorieren oder auch verspotten. Wir behalten die Autorität. Gefährlicher wird es, wenn psychologische Tricks eingesetzt werden, die unsere Wachheit und Aufmerksamkeit außer Kraft setzen oder die bewußte Wahrnehmung überhaupt hintergehen, weil die Reize zu kurz sind, um wahrgenommen zu werden. Als diese Technik verboten wurde, ging es um harmlose Werbung für Limonade im Kino, aber man hat sie aus prinzipiellen Gründen verboten: Man wollte unsere Autorität als Wünschende schützen, die in der Möglichkeit bewußter Wahl liegt. Wir sollten nicht überwältigt und zu wehrlosen Spielzeugen der Verkäufer gemacht werden.
    Doch Bewußtsein und Aufmerksamkeit brauchen nicht ausgeschaltet zu werden, um unsere Autorität zu untergraben. Das kann auch durch Druck und Drohung aus einer Gruppe geschehen, oder dadurch, daß ein Überlegener die Gefühle ausnutzt, die ein Unterlegener ihm gegenüber hegt: Gefühle der Zuneigung etwa, des Vertrauens und der Bewunderung. Beides sind mächtige Hebel der Manipulation. Sie können nicht nur Wünsche hervorrufen, sondern auch Gefühle wie Angst, Neid oder Haß, und Vorurteile, die sich zu ganzen Weltbildern fügen. So geschieht es, wenn jemand zum fanatischen Mitglied einer Religion, einer politischen Bewegung oder einer Sekte wird: Die Art, wie er die Dinge sieht, und die Empfindungen, die er den Andersgläubigen, seinen Feinden, entgegenbringt, speisen sich aus Zwängen der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen und aus einer bewundernden Unterwerfung unter den Einfluß eines Führers. Beides führt dazu, daß die Fähigkeit des Innehaltens und der

Weitere Kostenlose Bücher