Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
eine Beweggrund, der uns einen Schutzwall der Intimität errichten läßt, an dem die Blicke der anderen abprallen sollen.
Doch für das Bedürfnis nach einem privaten, intimen Bezirk unseres Lebens, zu dem die anderen keinen Zutritt haben, gibt es noch einen ganz anderen Beweggrund, der mit dem Bewußtsein eines Makels und dem Wunsch, ihn zu verbergen, nichts zu tun hat, und es ist für das Verständnis gewahrter und verlorener Würde wichtig, diesen anderen Beweggrund als ein eigenständiges Motiv zu erkennen.
Es ist das Bedürfnis, sich gegen die anderen abzugrenzen . Um uns als selbständige Individuen erleben zu können, muß es Dinge geben, von denen die anderen nichts wissen. Wir möchten nicht wie aus Glas sein: in unseren Regungen jederzeit und für jeden erkennbar. Wir möchten es auch dann nicht, wenn wir keine Entdeckung eines Makels fürchten müßten. Wir wollen das Zentrum eines Erlebens sein, wo wir mit unseren Erfahrungen allein sind. Wir wollen unsere Innenwelt nach außen hin versiegeln können. Wenn dieses Siegel gegen unseren Willen erbrochen wird, erleben wir es nicht als Entlarvung, sondern als Entgrenzung : Man hat uns die seelische Begrenzung und damit die Möglichkeit der Abgrenzung gegen andere weggenommen. Und auch das kann einen Verlust unserer Würde bedeuten.
Den Blick der Anderen spüren
Bin ich an einem leeren Strand oder in einer leeren Bibliothek, und nun erscheint jemand, dessen Blick auf mich fällt, so verändert das alles. Unter dem fremden Blick bin ich mit einemmal ganz anders in der Welt und ganz anders bei mir selbst als zuvor. Vorher war ich ganz bei einer Sache, versunken in den Anblick von Sand und Wasser oder konzentriert auf mein Buch. Es war ein Zustand der Selbstvergessenheit. Ich war mir selbst kein Thema. Der fremde Blick beendet diese selbstvergessene Hingabe an eine Sache. Jetzt erlebe ich mich als ein Objekt, auf das ein Blick gerichtet ist. Dadurch werde ich für mich selbst ein Thema. War ich der Welt gegenüber vorher nur ein Bewußtsein, das sich für sie interessierte, ohne ein Teil von ihr zu sein, falle ich nun selbst auch in die Welt hinein und spüre mich als einen Teil von ihr. Einmal gilt das für den Körper: Unter dem fremden Blick ist er vorhanden als ein Körper unter anderen Körpern, wenngleich immer noch ausgezeichnet als der Sitz meines Erlebens, als Leib. Doch auch die Gefühle und Gedanken sind nun anders vorhanden als vorher. Vorher fühlte und dachte ich sie nur. Jetzt, beobachtet von einem anderen, bin ich meiner selbst gewahr als einer, der sie fühlt und denkt. Vorher waren die Gefühle nur erlebt und die Gedanken nur gedacht. Ich war ganz in ihnen und ging in ihnen auf. Jetzt, unter dem fremden Blick, sind sie auf ganz andere Weise da . Ich bin insgesamt auf andere Weise da: Ich bin für einen anderen Blick da. Und ich bin für mich selbst da im fremden Blick und durch ihn hindurch. Ich sehe mich mit den Augen des Anderen.
Die Blicke derer, die den Strand oder die Bibliothek betreten, können unaufmerksam, flüchtig und beiläufig sein, es kann ihnen jede Aufdringlichkeit und Zudringlichkeit fehlen. Ich stehe nicht unter Beobachtung. Die Blicke müssen mich nicht beschäftigen. Wenn sich das ändert und aus den beiläufigen Blicken solche werden, mit denen man mich mustert , kommt eine neue Erfahrung hinzu: Ich werde verlegen . Verlegenheit entsteht aus dem Bewußtsein, von anderen ausdrücklich wahrgenommen, beobachtet und taxiert zu werden. Es geht dabei nicht um die Furcht, schlecht auszusehen. Man kann auch bei Lob oder Bewunderung verlegen werden; es kann einen verlegen machen, als Wohltäter und Vorbild gefeiert zu werden. Nicht eine Bewertung läßt die Verlegenheit entstehen, sondern die unerwünschte, vielleicht auch unerwartete Aufmerksamkeit. Man ist jetzt ausdrücklicher und aufdringlicher in der Welt, das Bedürfnis und die Gewohnheit unauffälliger Anwesenheit werden durchkreuzt. Man hat gemeint, unbeachtet bleiben zu können, und plötzlich richten sich aller Augen auf einen. Jetzt spürt man all die fremden Blicke wie Scheinwerfer und möchte weglaufen, obwohl es keinen Grund gibt, das Urteil der anderen zu fürchten.
Was ist ein Makel?
Der Erzähler in Per Pettersons Roman Ich verfluche den Fluss der Zeit berichtet, wie er in der vollen Bar eines nächtlichen Fährschiffs stand. »Im Raum befand sich ein Mann, den ich nicht mochte. Ich mochte sein Gesicht nicht, wenn er mich ansah. Als wüßte er etwas
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