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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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über mich, wovon ich selbst nichts wußte, was für ihn aber unübersehbar war, als stünde ich dort nackt ohne Spiegel mit meinen Wucherungen und Flecken und ohne Kontrolle über das, was er sah, und ich konnte in seinen Augen nicht sehen, was er in meinen sah. Aber was er sah und was er wußte , verlieh ihm ein Gefühl der Überlegenheit, und merkwürdigerweise auch zu Recht. So fühlte es sich wenigstens an. Das konnte ja aber nicht stimmen, ich hatte ihn noch nie gesehen, dessen war ich mir sicher, er wußte nichts über mein Leben.«
    Verlegenheit, wie ich sie bisher beschrieben habe, ist die Erfahrung, Gegenstand unerwarteter und unerwünschter Aufmerksamkeit geworden zu sein. Der Mann auf der Fähre berichtet von etwas, was sich manchmal mit gewöhnlicher Verlegenheit vermischt, was aber als eigenständige Erfahrung verstanden werden kann: Er spricht von dem bedrohlichen Gedanken und der bedrohlichen Empfindung, daß sich dem fremden Blick etwas an mir offenbaren könnte, was nicht einmal ich selbst weiß. Dieses Bewußtsein kann den fremden Blick für mich zu einem zudringlichen und gefährlichen Blick machen, zum Blick eines Gegners, gegen den ich mich schützen muß. Warum? Weil dasjenige, worum es geht, ein Makel sein könnte. Doch was ist das eigentlich: ein Makel?
    Nichts ist schon deshalb ein Makel, weil es der Fall oder da ist. Eine Mißbildung, ein Stottern, eine Sucht, eine abartige Neigung, ein Leben auf der Müllhalde, ein Versagen bei Lesen und Schreiben, die Male eines Selbstmordversuchs, ein Verrat – nie ist es das bloße Vorliegen, die bloße Existenz, die sie zu einem Makel macht. Makel ist keine Kategorie des Objektiven, bloß Tatsächlichen. Es ist eine bewertende Kategorie, eine Kategorie des negativen, ablehnenden Urteils: Ein Makel ist ein Übel . Das Urteil lautet: Es sollte nicht dasein, es sollte nicht geschehen sein. Es ist Zensur, die etwas zu einem Makel macht. In einer Welt ohne Zensur könnte nichts als Makel erlebt werden.
    Doch ein Makel ist nicht nur etwas, was als ein Übel beurteilt wird. Es ist nicht eine bloß gedankliche Ablehnung im Spiel. Ein Makel wird erlebt und gespürt als etwas, was nicht sein sollte: als etwas, dessen Existenz ich auslöschen möchte. Ich betrachte mich im Spiegel und wünschte sehnlichst, die Mißbildung möchte nicht dasein. Sie möchte weg sein. Oder, wenn der Makel eine Handlung in der Vergangenheit ist, ein Betrug etwa oder eine Grausamkeit: Ich möchte sie ungeschehen machen. Das ablehnende Urteil färbt die Weise des Erlebens ein. Das ist es, was jeden Makel zu etwas Bedrängendem macht und zu einer Last: Ich schleppe etwas mit mir herum – in der Gegenwart oder der Erinnerung –, was ich lossein möchte und nicht loswerden kann. Und da ich es nicht beseitigen kann, habe ich das unwiderstehliche Bedürfnis, es wenigtens zu verbergen . Ein Makel ist deshalb seiner Natur nach etwas, was zu verbergen ist.
    Doch Makel ist nicht gleich Makel. Es macht für das Erleben einen Unterschied, ob ich etwas dafür kann oder nicht, ob ich dafür eine Verantwortung trage oder nicht. Es gibt den Makel, der pures Pech ist, etwas, was mir einfach zustößt: eine angeborene Mißbildung, das Zittern einer Schüttellähmung, der kahle Kopf nach einer Chemotherapie, die verlorene Kontrolle über meine Ausscheidungen, eine unverschuldete Armut. Oft ist ein solcher Makel Anlaß für Verlegenheit, wie ich sie beschrieben habe, denn der Makel läßt mich auffallen und lenkt die Blicke auf mich. Doch weil es ein Makel ist, kommt eine neue Erfahrung hinzu: Ich geniere mich, es ist mir peinlich , vor den anderen so dazustehen. Der Blick des Fremden ist dem Mann auf dem Fährschiff auch deshalb unangenehm, weil er auf seine Wucherungen und Flecken fällt – auf einen Makel also. Und natürlich kann es viel schlimmer kommen. Es könnte Ihnen geschehen, daß der Gerichtsvollzieher an der Tür klingelt, und nun werden Ihre Möbel hinausgetragen, Stück für Stück. Ihre Schulden und Ihre Zahlungsunfähigkeit werden für jeden offenbar. Die Nachbarn sehen zu und ergötzen sich daran. Sie selbst stehen daneben. Ihr Gesicht brennt. Sie können nichts dafür, Ihr Arbeitgeber mußte Konkurs anmelden, es war einfach Pech. Das Gesicht brennt trotzdem. Es ist ein Brennen der Peinlichkeit. Sie genieren sich.
    Das Brennen fühlte sich anders an und wäre stärker, wenn Sie etwas dafür könnten – wenn es etwas gäbe, was Sie sich ankreiden müßten. Es könnte ein Versäumnis

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