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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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kann es klug sein, für die anderen undurchschaubar und ein Rätsel zu bleiben.
    Doch diese Klugheit ist nicht die ganze Geschichte über Intimität und Verschwiegenheit, und sie ist auch nicht der wichtigste Teil dieser Geschichte. Nehmen wir an, ich schreibe ein Tagebuch. Es ist kein Buch der dunklen Geheimnisse und heimlichen Geständnisse. Niemand, der es liest, hätte Grund, mit dem Finger auf mich zu zeigen. Im Gegenteil. Das Tagebuch könnte von einer überwundenen Angst handeln, einem überwundenen Haß, einer überwundenen Enttäuschung. Es könnte das Zeugnis eines inneren Kampfes sein, der höchste Achtung verdient. Es könnte eine Aufopferung sichtbar werden, ein Verzicht, eine moralische Größe. Es könnte sich Edelmut zeigen, Mitgefühl mit einem Feind, Mitgefühl mit einem, der gefehlt hat und nun am Pranger steht. Das Bild, das die anderen von mir haben, würde sich nach der Lektüre zum Guten hin verändern. Ich stünde da als ein Mensch voller Großzügigkeit, den man als Vorbild zitieren und zur Nachahmung empfehlen könnte, als ein charakterliches Leuchtfeuer. Was ist es, was mir trotzdem zur Verschwiegenheit rät?
    Das Tagebuch könnte auch von Dingen handeln, die nach keiner moralischen Bewertung verlangen: von einer Erschütterung etwa, einer Hoffnung, einer Liebe, einer Bewunderung und Verehrung. Es könnte der innere Abschied von einem Autor beschrieben werden, dessen Schriften mich jahrelang begleitet hatten, oder der Abschied von einem Maler und einer Musik, die mir einmal wichtig waren. Eine religiöse oder politische Überzeugung könnte Gegenstand der Aufzeichnungen sein, eine Trauer und ein Leid, eine Sehnsucht nach Nebel und kurzen Tagen. Auch die Vorliebe für ein Parfum oder eine Farbe könnte ich notiert haben. Und vielleicht habe ich Tagträume oder Erinnerungen festgehalten, die ich nicht verlieren möchte. Warum will ich mit alledem allein bleiben? Warum haben Tagebücher Schlösser?
    Wir möchten nicht, daß jemand vollständig weiß, wer und wie wir sind. Ein Teil von uns soll für die anderen im ungewissen bleiben, im dunkeln, im ungefähren. Sogar für diejenigen, mit denen wir das Leben teilen, Tag für Tag. Warum? Nehmen wir an, jemand findet unser Tagebuch, bricht es auf, und am Tag darauf kann jeder in der Zeitung lesen, was uns im stillen beschäftigt hat. Wir würden es als Unglück erleben. Doch was ist eigentlich schlimm daran – wenn doch, wie wir angenommen haben, nicht der geringste Makel ans Licht kommt? Was sind die richtigen Begriffe, um das Unglück zu beschreiben?
    Vielleicht möchten wir sagen, daß wir uns schutzlos vorkämen und entblößt : Jeder könnte jetzt sehen, wie wir sind. Wir könnten sagen, daß es uns ginge wie der Frau im Gefängnis von Nancy, nur noch schlechter: Der Frau hat man die Intimsphäre zerstört, doch ihre Innenwelt ist geschützt geblieben, sie blieb dem Blick der Wärterin verschlossen. Uns dagegen hat man, indem unser Erleben durch die Zeitungen geschleift wurde, auch noch den innersten Bezirk zerschlagen. Zwar ist es jetzt anders als nach einer Beschämung: Es sind keine verächtlichen, hämischen Blicke, die auf uns fallen. Trotzdem gehen die Blicke gleichsam durch uns hindurch und sind nicht aufzuhalten. Es mag uns nun ein verständnisvoller, ein bewundernder oder mitfühlender Blick treffen: Wir haben diese wissenden Blicke nicht gewollt, wir wollten unerkannt durch die Gassen gehen.
    Wir könnten auch zu anderen Begriffen greifen: Wir könnten sagen, daß die Veröffentlichung des Tagebuchs einen wichtigen Abstand zu den anderen aufgehoben hat, einen Abstand, der im Geheimnis begündet liegt – darin, daß es Dinge an uns gibt, die den anderen verborgen bleiben. Wer dem Bedürfnis nach einem solchen Abstand Rechnung trägt, ist diskret , wer den Abstand mißachtet, ist indiskret . Diskretion ist das Gefühl für Abstand, der Respekt vor dem fremden Geheimnis. Wir könnten fortfahren und sagen: Nur wenn es einen solchen Abstand zu den anderen gibt, können wir bei uns selbst sein. So daß, wer uns den Abstand nimmt, nicht etwas bloß Ungehöriges tut, auch nichts, was bloß unangenehm ist, sondern etwas Gravierendes und Zerstörerisches: Er bewirkt, daß wir uns verlieren . Die Zeitung in der Hand, die uns bis in die letzte Regung hinein öffentlich macht, spüren wir, daß wir uns unter den Blicken der anderen verlieren, weil es keinen inneren Bezirk mehr gibt, in den wir uns zurückziehen könnten, kein letztes Geheimis,

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