Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
des Fühlens, Wünschens und Denkens. Jetzt lüfte ich sie, und es findet, wie wir sagen, ein Gefühlsausbruch statt. Die seelische Eruption, die hervorbrechende Lava der Gefühle, spült den Schutzwall weg. Ohne es geplant zu haben, zeige ich mich, wie man mich sonst nicht gekannt hat. Und während ich mich zeige, spüre ich: Es wurde Zeit, auch öffentlich zu der Empfingung zu stehen, und meine Würde liegt in diesem Augenblick darin, mich nicht länger zu verstecken.
Das kann tiefe Achtung hervorrufen. Ich sehe es an den Blicken der Anwesenden, und auch am nächsten Tag, auf der Straße, spüre ich, wie sie mich dafür achten, daß ich öffentlich zu mir selbst gestanden habe. Für diese Achtung ist wichtig, daß der Gefühslausbruch spontan und echt war. Wenn wir uns auf diese Weise zeigen, darf es keine Inszenierung und keine Show sein. Nichts Kalkuliertes, Demonstratives. Kein Plan, keine Taktik. Echtheit als Überwältigung. Wenn ich am Grab zusammenbreche und wenig später, beim Verlassen des Friedhofs, Witze mache, werden die Leute sagen: »Würdelos – man macht aus tiefen Gefühlen keine Show.« Und ähnlich bei einer leidenschaftlichen Rede, die aus seelischer Tiefe zu kommen scheint: Wenn uns das Manuskript in die Hände fällt und wir entdecken, daß der Ausbruch als Regieanweisung vermerkt und minutiös geplant ist, werden wir Ekel empfinden. Es wird die Art von Ekel sein, wie man ihn angesichts von verspielter Würde spürt. Wahlkämpfer, die zehnmal am Tag Wut und Empörung zeigen, streng nach Plan, sind in Gefahr, lächerlich zu wirken, und es ist die Lächerlichkeit verlorener Würde.
Vor Gericht, am Grab, am Rednerpult: Das sind bedeutungsschwere, symbolisch geordnete Situationen, und ihr symbolisches Gewicht ist entscheidend für die Bereitschaft, mit dem, was sonst innen bleibt, nach außen zu treten. Es sind Situationen, könnte man sagen, die durch diese Bereitschaft mit definiert sind. Der öffentliche Aufschrei ist symbolisch eingebettet. Was aber ist, wenn wir diesen Aufschrei außerhalb jedes symbolischen Rahmens hören? Wenn einer seine Trauer, seinen Haß, seine Sehnsucht auf der Dorfstraße oder dem Marktplatz hinausschreit? Wenn aus dem Betrunkenen, der durch die nächtlichen Straßen torkelt, das Unglück roh, laut und hilflos hervorbricht? Ist das nur komisch oder peinlich oder bedauernswert? Oder gibt es auch hier eine Spielart der Würde? Die Echtheit vielleicht, das Unverstellte, Unverlogene?
Symbolisch geordnete Offenbarungen aus dem innersten Bezirk gibt es auch noch in anderer Form: als literarisches Tagebuch. »Daß ich Alkoholiker sei, habe ich früher schon gesagt. Jetzt ist es keine Koketterie mehr. Ich bin Alkoholiker«, schreibt Max Frisch in Entwürfe zu einem dritten Tagebuch . »Ich habe nie einen ernsthaften Versuch unternommen, meinem Leben ein Ende zu machen; auch keinen unernsthaften. Ich habe nur oft, in jedem Lebensalter, dran gedacht«, lesen wir in Montauk . Und: »Auf der sommernächtlichen Terrasse mit Blick über Rom schlafe ich mit dem Gesicht in der eigenen Kotze.« Überfiele uns jemand, den wir nicht kennen, mit solchen Geständnissen, so würden wir uns vielleicht abwenden, unangenehm berührt: Das wollten wir gar nicht wissen. Wir würden es als distanzlos empfinden, als indiskret. Als würdelos. Warum ist es anders, wenn es Sätze in einem sorgfältig komponierten Buch sind? Warum ist die Würde bei kunstvollen Offenbarungen weniger in Gefahr als bei billigem, distanzlosem Geschwätz? Warum macht eine kunstvolle Beschreibung, eine gekonnte Wahl der Worte, eine gelungene Komposition des Textes die Sache weniger indiskret und anstößig? Warum scheint die Würde weniger verspielt als bei der kunstlosen, unbeherrschten Entblößung? Ist es, weil die künstlerische Arbeit eine Reflektiertheit verrät, einen gedanklichen Abstand des Autors zu seinem Geständnis, der die Distanzlosigkeit, an der wir uns sonst stießen, wieder aufhebt? Oder ist es, daß die Sätze, weil sie eingebettet sind in ein kunstvolles Gebilde, die Dignität einer allgemeinen Einsicht bekommen, wenngleich sie nach wie vor von diesem einen Menschen handeln? Ist das der Grund, warum wir Autobiographien, die uns in den innersten Bezirk des Autors führen, nicht als würdelose Zumutungen empfinden, sondern als Quellen der Einsicht?
Offenbarungen von Intimem, die keine Verletzung der Würde bedeuten, gibt es noch in einem anderen Zusammenhang: im Rahmen einer Therapie. Wer zögert,
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