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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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um das wir eine Grenze zu ziehen vermöchten.
    Und auch das ist noch nicht die ganze Geschichte. Es geschieht noch etwas anderes mit unserem Erleben, wenn es dem innersten Bezirk entrissen und den Scheinwerfern der öffentlichen Aufmerksamkeit ausgesetzt wird: Es verändert sich. Und wir können diese Veränderung so beschreiben: Das ursprüngliche Erleben wird uns entwendet . Einmal öffentlich besprochen, ist es nicht mehr so erlebbar wie vorher. Es ist uns verlorengegangen . »Hätte ich nur nicht darüber geredet!«, sagen wir zu uns selbst, wenn wir unbedacht eine kostbare, zerbrechliche Empfindung ausgeplaudert haben. »Hätte ich es nur nicht zur Sprache gebracht!« Denn nun müssen wir befürchten, daß diese Empfindung in ihrer verschwiegenen Form nicht mehr zu wiederholen ist. Und wenn sich eine Empfindung nach der anderen auf diese Weise verliert, sind wir uns am Ende fremd .
    In einem der vielen Selbstgespräche, die Christa Wolf in ihrem Buch Stadt der Engel führt, sagt sie zu sich: »… da schwiegst du eben, als man später mit Fragen und Vorwürfen in dich drang. Irgendwann bildete sich der Satz: Wir haben dieses Land geliebt. Ein unmöglicher Satz, der nichts als Hohn und Spott verdient hätte, wenn du ihn ausgesprochen hättest. Aber das tatest du nicht. Du behieltest ihn für dich, wie du nun vieles für dich behältst.« Christa Wolf war nicht die Frau, die sich ihrer Empfindungen für die DDR schämte, und sie war auch nicht die Frau, die den verächtlichen Reaktionen nicht hätte standhalten können. Wenn sie den Satz, der ein so wichtiger Satz für sie war, verschwieg, dann deshalb, weil sie nicht wollte, daß die Empfindungen, die in den Satz flossen, durch ein hämisches und höhnisches Besprechen zerstört würden. Die fremden, verächtlichen Sätze hätten in ihr neue Empfindungen hervorgebracht, und auch wenn diese neuen Empfindungen an ihrer Einstellung nichts hätten verändern können, so wären doch die ursprünglichen Empfindungen durch den Sturm der Entrüstung und durch die Wut ihres Widerstandes unwiderruflich verändert worden. Es galt, die Liebe zu ihrem Land durch einen Abstand, der ein Abstand der Diskretion und Verschwiegenheit war, zu schützen.
    Und ist Verschwiegenheit am Ende nicht nur nach außen hin wichtig, sondern auch nach innen? Es kann sein, daß man mit den Worten nicht nur anderen gegenüber zögert, sondern auch sich selbst gegenüber. Daß man zögert, etwas für sich selbst auszusprechen oder aufzuschreiben, auch wenn man sicher sein kann, daß niemand es erfährt. Das kann sein, weil man etwas vor sich selbst verleugnen möchte: eine Angst, einen Neid, eine Schadenfreude. Besser gar nicht daran denken. Aber es muß nicht so sein. Es kann auch sein, daß es darum geht, die Empfindung in ihrer Unberührtheit durch Worte zu bewahren, weil man spürt, daß sie sich in ihrem Gehalt verändern würde, wenn sie in Worte gefaßt würde: daß sie mir selbst banal vorkäme oder kitschig, wenn ich sie benennen würde. Doch es muß nicht um eine negative Bewertung gehen. Auch nicht um eine unliebsame Entdeckung vor mir selbst, wie wenn ich mir sagen muß: Das also ist es, was ich empfinde. Könnte man sagen: Durch die Benennung wird die Erfahrung entzaubert ? Verliert den Zauber, der im Unausgesprochenen, Geheimnisvollen, Rätselhaften lag? So daß der innerste Bezirk auch in diesem Sinne von unserer Verschwiegenheit lebt?

Würdevolle Offenbarungen
     
    Die Würde eines Menschen hat also viel damit zu tun, daß er auf die Grenzen seines intimen Raums achtet und den innersten Bezirk seines Denkens und Fühlens nicht bedenkenlos für jedermann öffnet. Aber es kann geschehen, daß man sich mit seinen verborgensten Empfindungen vor der Öffentlichkeit zeigt und daß die eigene Würde gerade in einer solchen Offenbarung liegt. Man kann sich das vor Gericht vorstellen: Ich zeige mich in meiner Verletztheit, meinem Schmerz und meinem Haß, die mich zu der Tat getrieben haben. Oder am Grab: Ich lasse zu, daß jeder in meinen Tränen meine Erschütterung, meine Trauer und meine Verlassenheit sieht. Oder auch in einer politischen Rede, in der sich meine Wut und Empörung über Demütigung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit Bahn brechen. Die Situation hat es herausgefordert, und jetzt schreie ich die Empfindung hinaus. Die Trennwand zwischen Privatem und Öffentlichem fällt, und nun können alle einen Blick in mein Innerstes werfen. Es waren sorgfältig gehütete Geheimnisse

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