Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Zeitungen des Landes scheuten sich davor, die Dinge beim Namen zu nennen. Sie sprachen vom »L-Wort«. Sie nannten das Wort auch dann nicht, als mittlerweile jeder wußte, daß es Lügen waren. Und man wartete vergeblich darauf, daß die Regierungen, die gegen den Krieg waren, erklärten , er verstoße gegen das Völkerrecht. Auch das war tabu.
Bushs Lüge und die Verlogenheit derer, die sie nicht beim Namen nannten, verstießen gegen die Würde im Sinne des Willens zur Wahrhaftigkeit. Doch die Dinge können auch komplizierter liegen. Es kann geschehen, daß wir einen Selbstmordversuch gegen besseres Wissen hartnäckig einen »Unfall« nennen, und vielleicht sagte James Tyrone früher zu den Kindern: »Mama ist müde und braucht ihre Medizin.« Wir nennen so etwas eine Sprachregelung : eine Entscheidung für bestimmte Worte, auch wenn wir wissen, daß sie verschleiern. Auch hier geht es darum, daß jemand sein Gesicht wahren kann. Und auch hier geht es um eine stillschweigende Übereinkunft, die Wahrheit zu vertuschen. Doch das Manöver kann als etwas betrachtet werden, was die Würde trotzdem schützt statt sie zu vernichten. Warum?
Es muß mit dem Motiv zu tun haben. Das Motiv ist der Schutz vor Grausamkeit. Es wäre grausam, als einer dazustehen und besprochen zu werden, der sich umbringen wollte, oder als eine Mutter, die dem Morphium verfallen ist. Die verschleiernden, beschönigenden Worte sollen das verhindern. »Aber wie können sie das denn, wenn doch alle Beteiligten die Wahrheit kennen?« Das könnten Tyrones Söhne den Vater eines Tages fragen. »Was für eine Art von Würde ist das denn, wo doch eingestandene Lüge im Spiel ist? Ist das nicht eine sonderbare Würde, die auf dem Herbeten einer bekannten Lüge beruht?« »Ich weiß es auch nicht, Jungs«, würde der Vater vielleicht antworten. »Das mit der Würde – vielleicht ist das ein Mißverständnis. Ein verzweifeltes Mißverständnis. Vielleicht – wenn wir ganz ehrlich sind – geht es einfach um Angst. Angst vor den treffenden, harten Worten. Man kann sich an den sanfteren Worten irgendwie festhalten, und man möchte sich an etwas festhalten …«
Dummes Geschwätz
In dem Maße, in dem unsere Würde durch den Willen zur Wahrhaftigkeit bestimmt wird, hat sie mit einer Einstellung zu tun, die man intellektuelle Redlichkeit nennen kann. Als Maxime formuliert, lautet sie: Man soll nicht vorgeben, Dinge zu wissen, die man nicht weiß und nicht wissen kann. Man kann viele Annahmen und Überlegungen aussprechen und zur Diskussion stellen. Auch Annahmen und Überlegungen, die auf wackligen Füßen stehen. Das ist es nicht, was die intellektuelle Redlichkeit verbietet. Was sie verbietet, ist, daß man sie als Wissen ausgibt – als etwas, worauf man bauen kann. Das geschieht besonders oft und besonders durchsichtig in Äußerungen von Politikern. Sie haben oft Zusammenhänge zum Gegenstand, die so komplex und unübersichtlich sind, daß niemand wirklich weiß, wie die Dinge liegen und was zu tun ist. Doch die Regierungschefs, die Minister und die Sprecher der Parteien stellen sich hin und behaupten, als einzige die Übersicht zu haben. Die anderen liegen falsch. Was man über die Situation sagt und was man vorhat, ist alternativlos. In Parteien und Ministerien werden Formeln geschmiedet und Metaphern beschworen, die in ihrer Einfalt zum Lachen sind. Umso energischer sind die Bewegungen von Händen und Armen am Rednerpult. Wenn man den Ton abschaltet und nur die Körpersprache betrachtet, sieht man Menschen, die ihr fehlendes Wissen durch eine Gestik der Selbstüberredung kaschieren. Niemand, der solides Wissen vorträgt, hat solche Gestik nötig. Wenn man den Ton wieder anschaltet, wird es kein bißchen besser. Es ist ein unwürdiges Schauspiel.
Es könnte anders sein. »Die Fakten sind Ihnen bekannt«, könnte der Redner sagen. »Und es ist unstrittig, daß wir handeln müssen. Doch es ist alles andere als offensichtlich, was zu tun ist. Es gibt so vieles, was wir nicht vorhersehen können. Was niemand vorhersehen kann. Es sind in diesem Hause ganz unterschiedliche Vorschläge gemacht worden, Sie haben es gehört. Es gibt viele ernsthafte Argumente, die einander widersprechen. Es wäre unredlich so zu tun, als wüßten wir, die Regierung, es einfach besser als die Opposition. Die Wahrheit ist: Alle, die wir hier sitzen, müssen wir unter Bedingungen der Unsicherheit entscheiden. Wer den anderen zugehört hat und ehrlich ist, wird nachher seine
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