Eine Ehe in Briefen
Februar 1901 melden die Zeitungen die Exkommunikation Tolstojs, dessen Standpunkte der Kirche schon lange ein Dorn im Auge waren. Voller Zorn über die Exkommunikation ihres Mannes verfaßt Tolstaja einen offenen Brief an die Kirchenfürsten und an Pobedonoszew, in dem sie ihrem Protest flammend und selbstbewußt Ausdruck verleiht.
Nach einem fast einjährigen Aufenthalt in Gaspra auf der Halbinsel Krim kehren die Tolstojs nicht mehr zum ständigen Wohnsitz in Moskau zurück. Beide Ehepartner gehen ihrer Tätigkeit nach: Tolstoj schreibt Hadschi Murat und kommentiert in einer Vielzahl von Aufsätzen die revolutionären Unruhen im Rußland der Jahre 1905 bis 1907, in denen er zu Gewaltlosigkeit aufruft; seine Frau bereitet die elfte Auflage der Gesamtausgabe der Werke Tolstojs zum Druck vor, malt, fotografiert und schreibt an ihren Erinnerungen Mein Leben.
Nach der Rückkehr Tschertkows nach Rußland im Jahr 1907 gerät der stets instabile Kompromiß des Lebens auf Jasnaja Poljana ins Wanken. Tschertkow und andere Adepten Tolstojs belasten durch ihre ständige Anwesenheit im Haus und ihre Parteinahme gegen die Gattin das Leben der Familie. Tschertkow drängt Tolstoj, ein Testament abzufassen, dessen Inhalt vor Sofja Tolstaja geheimgehalten wird. Die Situation auf Jasnaja Poljana eskaliert. Tolstoj verläßt seine Frau nach achtundvierzig Ehejahren ohne Abschied. Auf seiner Reise erkrankt der Schriftsteller und stirbt am 7. November 1910 in Astapowo, ohne daß es zu einer Versöhnung mit seiner Frau kam.
1900
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[23. September 1900]
[Moskau]
Gerade bin ich aufgestanden, und das erste, was ich tun möchte, ist, Dir, lieber Ljowotschka, zu schreiben und jenes Tages zu gedenken, der uns für die vielen Jahre, die wir miteinander leben, vereint hat 1 . Zuerst war ich traurig, daß wir heute nicht beieinander sind, doch dann wandte sich mein Herz mit inniger Zärtlichkeit der Erinnerung an unser gemeinsames Leben und Dir zu, und da verspürte ich den Wunsch, Dir für das einstige Glück, das Du mir gegeben hast, zu danken und zu bedauern, daß es nicht unser ganzes Leben lang so stark, still und vollkommen bleiben konnte.
Es bekümmert mich sehr, daß Sascha mir nicht geschrieben hat, und ich bin in Sorge Deiner Gesundheit wegen; vermutlich hat sie zu schreiben vergessen oder den Brief nicht beizeiten abgesandt.
Hier gibt es viel trostlose alltägliche Arbeit zu erledigen; ich komme nur sehr langsam damit voran. [...] An den Abenden bin ich derart erschöpft, daß ich gar nicht ausgehe, mich weiterhin mit den Abrechnungen und Aufzeichnungen beschäftige und ein wenig Klavier spiele. [...] Auch heute bleibe ich zu Hause, möchte nur zum Gottesdienst in die Kremlkirche fahren, wo wir getraut wurden, weiß aber noch nicht, ob ich es schaffe. Als ich noch in Jasnaja war, war ich guten Mutes, ich könne in Moskau das Theater besuchen, doch das Leben hier ist so ermüdend, daß mir gar nicht der Sinn nach Zerstreuung steht.
Ich war bei Krjukow 2 , er sagt, das Sehen habe sich verbessert, doch der schwarze Fleck verschwände nicht schnell, da das Innenauge nur sehr wenig vom allgemeinen Stoffwechsel erhalte und deshalb alle Prozesse dort sich sehr langsam vollziehen.Er gab mir eine Salbe, die ich einmassieren soll und Tropfen, wenn das Auge entzündet ist.
Morgen möchte ich nach Petrowskoje-Razumowskoje 3 fahren, um meinen Enkel dort zu besuchen. Morgen ist Sonntag, daher muß ich meine Erledigungen aufschieben. Zuvor suche ich am Vormittag das Waisenhaus 4 auf, was ich am Abend mache, weiß ich noch nicht. Am Montag mache ich Besorgungen und werde vermutlich am Dienstag abend nach Hause, nach Jasnaja abreisen. [...]
Ich hoffe, lieber Ljowotschka, daß Du mir aus alter Verbundenheit heraus wenigstens einmal schreibst.
Ich küsse Dich, gib auf Dich acht, und laß uns noch lange und noch besser miteinander leben.
Deine Sonja Tolstaja.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[26. Dezember 1900]
Jasnaja Poljana
Es ist überaus schwierig, liebster Freund, darüber zu schreiben, was sich hier bei uns ereignet 5 . Endloses Leiden, ständige Gespräche darüber, wer schuld habe, wer ihn verkühlt habe usw. usf. Das Kind ist noch nicht begraben, für morgen wird Westerlund 6 erwartet, er kommt am Abend an, die Beerdigung wird am 28. um 12 Uhr sein. Beide Eltern befinden sich in furchtbarer Verfassung. Dora 7 läuft weinend von dannen, läuft immer
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