Eine ehrbare Familie
in ganz Europa hervorgerufen hatte. Später war sein aufsehenerregender Bericht über die Mißhandlungen von Engländern und anderen Europäern im Amazonasgebiet erfolgt.
Das hatte ihm die Erhebung in den Adelsstand eingebracht, und er war nicht nur in Großbritannien ein hochangesehener Mann, sondern auch in Amerika. Im Frühjahr 1912 war er aus Gesundheitsgründen in Pension gegangen und hatte sich in seinem heimatlichen Irland niedergelassen.
Charles gähnte, all das wußte er bereits. Casement hatte sich mit dem militanten Flügel der irischen Nationalisten und den irischen Freiwilligen eingelassen. Jedermann wußte, wo seine Sympathien lagen und daß er die englischen Politiker haßte.
MI 5 war von Casements häufigen Besuchen in Berlin und seinem Plan, mit Hilfe der Deutschen die Engländer aus Irland zu vertreiben, aufs genaueste unterrichtet.
Charles wurde ungeduldig, doch dann erregte ein Abschnitt sein Interesse. Er setzte sich kerzengerade im Sessel auf und traute fast seinen Augen nicht, denn die Akte, die ihm von der Geheimpolizei übergeben worden war, enthielt eine Menge Informationen, die, soweit er wußte, an MI 5 nicht weitergegeben worden waren.
Natürlich war MI 5 bekannt, daß Casement auf der Inhaftierungsliste stand. Aber obwohl Patrick Quinn eng mit Kell zusammenarbeitete, hatte die Geheimpolizei gewisse Aktionen für sich behalten. Zum Beispiel, daß eine Hausdurchsuchung von Casements Londoner Wohnung genehmigt worden war. Auch hatten Kell oder andere höhere Beamte nie erfahren, was Quinn bei der Hausdurchsuchung gefunden hatte. Und dabei war er äußerst erfolgreich gewesen! Charles starrte auf die Fotografien und Kopien der zahllosen Seiten von Sir Roger Casements Tagebuch. Es war von ihm selbst verfaßt. Graphologen hatten das bestätigt.
Niemand hatte MI5 auch nur den geringsten Hinweis gegeben, daß dieses Tagebuch, abgesehen von anderen interessanten und belastenden Fakten, auch den unwiderlegbaren Beweis für Casements aktive Homosexualität lieferte.
Es wurde immer klarer, daß der DID und die Geheimpolizei eng zusammenarbeiteten, Kell aber ausschlossen.
Charles war jetzt hellwach, er las jede Zeile sorgfältig, gewisse Teile lernte er auswendig, um seinem Chef zu berichten.
Die Besuche Casements in deutschen Gefangenenlagern, wo er mit irischen Gefangenen gesprochen hatte, waren genau aufgezeichnet. Notizen von diesen Unterhaltungen machten den Eindruck, als seien sie mitstenographiert worden, dann gab es seitenlange Übertragungen von abgefangenen und dechiffrierten Telegrammen. Es war offensichtlich, daß DID-Chef Hall seine Informationen direkt an Thomsons Geheimpolizei weitergab.
Aufgrund dieser Unterlagen schien es durchaus möglich, daß Casement bereits eine Waffenlieferung an die irischen Rebellen eingeleitet hatte, so daß ein Aufstand kurz bevorstand.
Die letzte Eintragung bewies diese Hypothese. Sie bestand aus einem entschlüsselten Telegramm von Graf Bernstorff, dem deutschen Botschafter in Washington. Er hatte nach Berlin telegraphiert, daß der Aufstand für den 23. April, Ostersonntag, geplant war. Des weiteren wurden für die sogenannte Nationale Armee Maschinengewehre, Geschütze und zwischen fünfundzwanzigund fünfzigtausend Gewehre angefordert.
Charles überschlug, daß ungefähr dreißig abgefangene und dechiffrierte Telegramme betreffs Unterstützung und Waffen für die irischen Rebellen zwischen der deutschen Botschaft in Washington und Berlin hin- und hergegangen waren. Für die MI5 war diese Akte eine Sensation. Die Geheimpolizei, Halls und bis zu einem gewissen Grad auch C’s Dienststellen hatten genug Informationen zusammen, um jeden Aufstand in Irland im Keim zu ersticken.
Die Uhr auf dem Kamin schlug acht, und Charles wurde sich bewußt, daß er sich noch nicht zum Abendessen umgezogen hatte. Ihm schwirrte der Kopf, und am liebsten hätte er sofort Kell angerufen, aber der Chef von MI 5 hatte alle seine Mitarbeiter davor gewarnt, Geheimsachen am Telefon zu diskutieren.
Er ließ die Akte auf der Sessellehne liegen und ging eiligst aus dem Zimmer. Wenn nicht anders verabredet, aßen sie immer pünktlich um halb neun. Er hatte Mildred am Morgen nicht gesehen, so daß er keine Ahnung hatte, in welcher Stimmung sie sich befand.
Nachdem er sich umgezogen hatte, ging er wieder ins Wohnzimmer. Mildred saß im gleichen Sessel, in dem er zuvor gesessen hatte, und blätterte in der Casement-Akte.
Charles lächelte, küßte sie auf die Stirn und
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