Eine ehrbare Familie
nahm behutsam die Akte von ihren Knien. Mildred lächelte zurück. Ihre Augen glänzten. Sie war gut gelaunt.
«Wie war’s denn heute, Liebling?» Er legte die Akte beiseite. «Was hat Dr. Harcourt gesagt?»
«Dieser alte Langweiler!» Sie sah ihn fast schelmisch an. «Hab ich es dir nicht erzählt? Ich gehe jetzt zu jemand anderen. Eine Frau in Harcourts Wartezimmer hat mir die Adresse gegeben. Er praktiziert gleich um die Ecke von Dr. Harcourt. Ein Dr. Fisher. Sehr guter Mann, viel besser als Harcourt. Er sucht sich seine Patienten sehr sorgfältig aus und hat eine Privatklinik. Er ist nicht teurer als Harcourt.»
Charles nahm sich vor, Erkundigungen über Dr. Fisher einzuziehen. Seine enge Beziehung zur Geheimpolizei würde ihm dies erleichtern.
Sie gingen zum Essen. Charles nahm die Casement-Akte mit und legte sie auf den Boden neben seinen Stuhl. Er hatte das Gefühl, sie würde ein Loch in den Teppich brennen.
Am gleichen Tag hatte Caspar auf C’s Anweisung hin die Casement-Akte von MI 5 gelesen. Er wußte nicht, daß seine Version sehr viel dünner war als die Akte der Geheimpolizei. Ein großer Teil der abgefangenen Telegramme fehlte und vor allem auch das Tagebuch. Alle Informationen, die von C’s Leuten stammten, waren natürlich vorhanden, aber was Caspar und MI 5 nicht ahnte, war, daß die Akte «ausgeweidet» war, wie die Marine-Informationsdivision das nannte.
In der Admiralität wurde die Akte - eine exakte Kopie von der, die neben Charles’ Stuhl lag - von Andrew auf den neuesten Stand gebracht. Von einem sehr veränderten Andrew.
Das dechiffrierte Telegramm, das er hinzufügte, war bereits an alle interessierten Stellen weitergegeben worden. Eines Tages würde es historische Bedeutung erlangen. Das Telegramm stammte vom deutschen Generalstab und war an Graf Bernstorff gerichtet. Es besagte, daß die angeforderten Waffen für Irland auf ein kleines Schiff, dessen Namen sie nannten, verladen würden. Zusätzlich enthielt es noch eine Menge Codewörter und die Chiffren, die anzeigen sollten, wann Casement nach Irland fuhr, wann die Waffen abgingen, ob die Aktion abgebrochen oder ob sie verschoben werden mußte.
Charlotte, die außer ihrer Arbeit in Redhill auch noch andere Kriegspflichten übernommen hatte, bemerkte, daß ihr Mann jetzt immer ungewöhnlich spät aus der Admiralität heimkehrte. Seltsamerweise hatte sie das nicht mit der deutlich sichtbaren Veränderung in Andrews Verhalten in Verbindung gebracht. Er war abends nicht mehr so häufig betrunken, dafür aber um so müder. Dagegen war sein Äußeres wieder so gepflegt wie früher. Fast schien es, als hätten sie die Rollen vertauscht, denn jetzt ließ sich Charlotte oft gehen.
Der Grund für Andrews Veränderung war seine neue Sekretärin
Miss Grizelda Greatorex. Sie war klein, dunkelhaarig, hübsch und gute achtzehn Jahre jünger als Andrew, überdies Besitzerin einer eleganten Wohnung, die ein reicher und verständnisvoller Vater ihr bezahlte.
Andrew war siebenundvierzig Jahre alt, sah noch immer sehr gut und sehr distinguiert aus und wirkte, was Miss Greatorex als erste bestätigt hätte, besonders anziehend auf jüngere Frauen.
Charles, Caspar und Andrew hüteten also persönliche Geheimnisse, die sowohl für ihr Privatleben wie Englands Sicherheit gefährlich werden konnten. Charles’ Liebschaft mit der ermordeten Hanna Haas barg noch immer eine Zeitbombe in sich, und Miss Grizelda Greatorex war die personifizierte Indiskretion. Ganz im Gegensatz zu den Railtons konnte die Greatorex-Familie keinerlei Information bei sich behalten.
Der «Professor» sah James jeden Tag. Doch James blieb vorsichtig. Es war töricht, Tatsachen abzuleugnen, aber ebenso töricht, ihnen etwas hinzuzufügen. Also schwieg er. Dies schien den «Professor» nicht sonderlich zu stören. Er fragte, bekam keine Antworten, und so gab er sie sich selbst.
«Sind Sie verheiratet?»
Keine Antwort.
«Sie heißt Margaret. Sie haben einen Sohn Donald und eine Tochter namens Sara Elisabeth. Sara benannt nach Ihrer Stiefmutter. Die hat übrigens wieder geheiratet. Einen alten Freund von Ihnen, Dick Farthing.» Der «Professor» sah ihn belustigt über die Brille an. «Das muß Ihrem Onkel Giles schlaflose Nächte bereitender Familienbesitz und all das.»
Ein Achselzucken.
«Und was ist mit Ihrem Onkel Charles, dem schwarzen Schaf der Familie?»
«Was geschieht mit mir?»
«Was soll geschehen?»
«Wird mir kein Prozeß gemacht?»
«Prozeß? Aber mein
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