Eine ehrbare Familie
warnten davor, Casement hinzurichten.
Die Geheimpolizei hatte seit Jahren versucht, Casement dingfest zu machen. Und nun war es Reginald Hall und Basil Thomson gelungen. Auch hatten Hall und Thomson - egal, ob Casements Erklärung, er wäre nach Irland gekommen, um den Aufstand zu verhindern, nun der Wahrheit entsprach oder nicht - die Presse ausgeschaltet und zweifellos zu dem unseligen Osteraufstand beigetragen, der von den Militärs so brutal niedergeschlagen worden war.
Es hieß, daß Hall und Thomson das Gesetz jetzt in die eigenen Hände genommen hatten. Beunruhigt, daß das Todesurteil aufgehoben würde, griffen sie auf ihre geheime Beute zurück - die Tagebücher, die sie in Casements Wohnung gefunden hatten.
Gewisse Seiten und Fotografien wurden kopiert. Die Auszüge waren sorgfältig ausgewählt, denn alle bewiesen Casemtnts Homosexualität. Diese Dokumente, hieß es wiederum, wurden auf Veranlassung von Thomson und Hall in neutralen Umschlägen durch Boten an die einflußreichen Leute verteilt, die sich für Casement eingesetzt hatten. Alles ehrenwerte Männer, die davor zurückschrecken würden, öffentlich für einen Homosexuellen einzutreten - eine schwere und unverzeihliche Sünde zur damaligen Zeit. Und so besiegelten Thomson und Hall auf hinterlistige Weise das Schicksal Casements. So wurde gemunkelt.
Tatsache ist, daß sich alle Sympathie für Casement schlagartig verflüchtigte und die Berufung abgelehnt wurde. Er wurde am 3. August gehängt, am gleichen Tag, an dem Charles Dr. Harris zum zweiten Mal eingeladen hatte, um Mildred kennenzulernen. Er führte ihn als einen Kollegen ein.
Mildred war von peinlicher Ausgelassenheit und Exaltiertheit und flirtete sogar mit Harris. Während der Mahlzeit und danach sprach Charles nur wenig, statt dessen hörte er aufmerksam zu. Es entging ihm daher nicht, daß Harris unauffällig einige gezielte Fragen stellte. Je weiter der Abend fortschritt, desto nervöser und niedergedrückter wirkte Mildred. Ihre Selbstsicherheit schien dahinzuschwinden, und um halb elf Uhr ging sie zu Bett.
Nach ihrem Weggang schwieg Harris eine Weile und trank seinen Kognak. Dann sagte er: «Sie gehört in eine Entziehungsanstalt, mein armer Freund. Man braucht kein Experte zu sein, um zu sehen, daß sie drogensüchtig ist, und zwar in einem vorgeschrittenen Stadium. Vermutlich Morphium. Aber Sie können sie nicht ohne weiteres einweisen, und wir können uns nicht mal an ihren behandelnden Arzt wenden, denn der verschreibt ihr ja das Zeug.»
«Und was passiert, wenn...»
«Wenn wir nichts unternehmen? Tut mir leid, Charles, aber sie steckt schon zu tief drin. Es würde lange dauern und intensive ärztliche Betreuung erfordern, sie zu kurieren - wenn es überhaupt noch möglich ist. Wenn wir nichts tun, ist sie in drei Monaten tot.»
Denise Grenot, unter dem Namen Jacqueline Baune, stieg an ihrer üblichen Haltestelle in Lanaken in die Straßenbahn. Seit einiger Zeit unternahm sie diese Fahrt zweimal wöchentlich; es bestand ein großer Bedarf an Informationen über deutsche Truppenverstärkungen, da an der Westfront um jede hundert Meter Boden erbittert gekämpft wurde.
Das «Frankignoul»-Netz hatte viel dazu beigetragen, daß genaue Berichte regelmäßig in London eintrafen, und ein Kommunikationssystem aufgebaut, bei dem eigentlich nichts schiefgehen konnte.
Zwei Mitglieder der Organisation fuhren immer gemeinsam mit der Straßenbahn nach Holland. Eines hatte die Informationen in der Schuhsohle versteckt oder in die Unterwäsche eingenäht, das andere hielt Ausschau. Heute bewachte Denise einen alten Belgier, genannt Paul, der die neusten Nachrichten über Munitionszüge bei sich trug.
Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, daß Paul ohne Zwischenfälle nach Holland gelangte und mit dem alliierten Vertrauensmann in Maastricht Kontakt aufnahm. Auch mußte sie sich vergewissern, daß niemand Paul oder ihr folgte. Eine Stunde später würde sie dann mit gefüllter Einkaufstasche nach Belgien zurückfahren.
Sie erreichten den Grenzposten, und die deutsche Polizei stieg ein. Für gewöhnlich durchsuchten sie den Straßenbahnwagen nur sehr oberflächlich. Doch heute spürte Denise eine gewisse Spannung. Die Deutschen beachteten niemand, sie schienen auch von Paul keine Notiz zu nehmen, der eine Einkaufstasche aus Hunderten von verschiedenen Lederflicken trug, die in langen Winternächten aneinandergenäht worden waren. Paul war über siebzig und sah klapprig aus. Was
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