Eine ehrbare Familie
Ist meiner Mutter was passiert?» Sein Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte an Weihnachten so wohl ausgesehen.
«Nein, Sergeant. Kein Urlaub aus dringenden familiären Gründen. Ihre frühere Arbeitgeberin, eine Mrs. Farthing, hat Urlaub für Sie beantragt.»
«Mrs. Sara?»
«So ist es, Sergeant. Hat Beziehungen, die Dame.» Der Colonel blätterte in seinen Papieren. «Nun, viel Spaß, Sergeant. Aber hängen Sie nicht in Paris oder London herum. Schnurstracks nach» - er warf einen weiteren Blick auf die Papiere - «Haversage, nicht wahr?»
«Ja, Sir.»
«Also, packen Sie Ihr Zeug zusammen und einen guten Urlaub.»
Was konnte Mrs. Sara von ihm wollen? Es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken. Solange mit Mutter alles in Ordnung war, spielte der Rest keine Rolle. Eine Woche in Redhill, im Frühjahr! Keine Geschütze! Keine Angst! Ein Geschenk des Himmels.
Er nahm die U-Bahn nach Paddington. Von dort aus den Zug nach Haversage. Er mußte eine halbe Stunde warten.
Es wäre ein seltsamer Zufall gewesen, wenn er auf dem überfüllten Bahnhof einen vorbeigehenden Maat bemerkt hätte, der an einem Stock ging, als hätte er ein Holzbein. Ein Riese von einem Mann, dessen eine Gesichtshälfte bandagiert war. Er trug seine Ausgangsuniform und darüber einen Marineregenmantel und einen weißen Schal.
Der Maat ging auf Bahnsteig zwei zu, von wo der Zug nach Bristol abfuhr.
«Natürlich werden sie das Schwein für schuldig befinden. Er ist ein Verräter, und sie werden ihn hängen. Ich war dabei, Brian, ich habe mir seine verdammten Lügen angehört. Er behauptete, er sei in Irland gelandet, um den Aufstand zu verhindern .»
«Aber...» Wood überlegte, daß Charles sich stark verändert hatte seit Kriegsausbruch, als er ihn kennengelernt hatte.
«Und ich sage Ihnen, Sir Roger Casement endet am Galgen.» Charles bemerkte, daß seine Hände zitterten. Seine Nerven waren völlig zerrüttet. Es war nicht nur seine Tätigkeit - die enge Zusammenarbeit mit Thomson, die Verpflichtung, Kell täglich berichten zu müssen, die kindischen Fehden zwischen den einzelnen Geheimdiensten, in die er hineingezogen wurde -, die ihm zu schaffen machte, sondern auch seine privaten Sorgen.
Mildreds Verhalten beunruhigte ihn mehr und mehr. Wie war es möglich, daß ein ausgeglichener Mensch wie Mildred zusehends so verfiel? Es wurde immer schlimmer mit ihr, euphorische Stimmungen wechselten rapide mit tiefen Depressionen ab, auf die Wutanfälle folgten.
Mildred war immer eine gute und sparsame Hausfrau gewesen, aber in letzter Zeit bat sie monatlich um Erhöhung des Haushaltsgeldes.
Charles konnte nicht wissen, daß Dr. Fisher das Laudanum stillschweigend abgesetzt hatte und sie jetzt mit Morphium behandelte. Doch Kell hatte sein Versprechen gehalten und Charles mit seinem Arzt bekannt gemacht, einem ernsthaften, sympathischen und offensichtlich zuverlässigen jungen Mann namens Martin Harris.
Sie hatten sich eine Stunde lang unterhalten, und Charles hatte alle Fragen so klar wie möglich beantwortet. Wie Kell vorausgese-hen hatte, war Dr. Harris durchaus bereit, auf das kleine Komplott einzugehen, sich als Gast auszugeben. Und so lud Charles ihn zum Abendessen ein. Doch am verabredeten Tag hatte Mildred einen Gallenanfall, und so wurde das Essen auf Anfang August verlegt, da Harris verreisen mußte.
Zusätzlich zu alldem, mußte er Brenner gesetzwidrige Informationen liefern über Munitionsproduktion, Flugzeugtypen, Rekrutierung und die Beziehungen zwischen dem Kriegsministerium und der Admiralität. Kaum eine Woche verging, während der er nicht eine kurze Liste mit Fragen erhielt.
Da Charles Brenner voll vertraute und das verwickelte Doppelspiel zu durchschauen vermeinte, das verhinderte, daß die Wahrheit die Fragesteller erreichte, tat er wie befohlen. Er sammelte alles Wissenswerte, nahm an geheimen Sitzungen in den «Sicherheitshäusern» teil, erstattete Brenner Bericht und versuchte, nicht weiter über die Sache nachzudenken.
Doch irgendwo am äußersten Rand seines Bewußtseins hing ein großes Fragezeichen. Er hatte Brenner sogar um nähere Erklärungen gebeten, aber der hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt.
Und nun hatte Basil Thomson ihn gebeten, den Weißen-Schal-Mord mit Wood und Partridge zu diskutieren.
Sie warteten, daß er den Anfang machte. Er räusperte sich und sagte, am besten wäre es, erst mal alles zusammenzustellen, was sie über den Mann wüßten, den der Feind den «Fischer» nannte.
Er
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