Eine ehrbare Familie
jetzt, als er Madeline betrachtete, fühlte er den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. Eine höchst unprofessionelle Regung, die ihn beunruhigte. Er fragte sich, wie ihre Haut sich anfühlen, ob sie seine Leidenschaft erwidern würde. Seine Phantasie gaukelte ihm lustvolle Bilder vor, und es kostete ihn die größte Anstrengung, sich auf ihre Worte zu konzentrieren.
Nach einer halben Stunde wußte er alle Einzelheiten des Komplotts. Der Plan war gewesen, Mrs. Churchill in einem Unterseeboot zu entführen. Ein Taxifahrer war bestochen worden, um die Bewußtlose an den Strand zu transportieren. Sklave sollte an einer einsamen Bucht oberhalb Overstrand warten.
Da Miss Drew ihre Verabredung mit dem Taxifahrer nicht eingehalten hatte, war anzunehmen, daß Sklave nervös geworden war und vermutlich dem U-Boot ein Signal gegeben hatte, das Unternehmen aufzugeben.
Nachdem Charles dies alles erfahren hatte, ließ er die Polizeibeamtin kommen und bat sie, der Angeklagten Tee und etwas zu essen zu geben, während er kurz Dobbs instruierte. Danach informierte er telefonisch den militärischen Kommandoposten und rief die Admiralität an, damit eine Fregatte losgeschickt werden konnte, um nach dem U-Boot zu fahnden.
Dobbs machte sich auf die Suche nach Wood und Partridge mit der Anweisung, Sklave zu verhaften, aber möglichst erst im allerletzten Moment.
Als das alles in die Wege geleitet war, ging Charles zu der Frau zurück und hörte ihr weiter mit großer Geduld zu.
Ihr richtiger Name war Hanna Haas. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, die illegitime Tochter eines deutschen Geschäftsmanns und einer englischen Krankenschwester. Frederick Haas hatte Mutter und Tochter nach Deutschland geholt, und Hanna war in Berlin aufgewachsen. Mit fünfzehn, nachdem sie die Schule beendet hatte, war sie nach London zurückgekehrt und hatte sechs Jahre erst als Kinderschwester, dann als Gouvernante bei einer englischen Familie gearbeitet. 1909 bat Haas sie, nach Berlin zurückzukehren, da ihre Mutter krank sei. Zwei Jahre lang hatte sie die schwer leidende Mutter gepflegt. Nach deren Tod hatte Frederick Haas ihr eine Ausbildung als Krankenschwester ermöglicht. Durch ihren Vater hatte sie in dieser Zeit deutsche Offiziere kennengelernt.
Zu ihrem großen Erstaunen wurde sie sehr vom deutschen Geheimdienst umworben. Zuerst verhielt sie sich ablehnend, aber bald verfiel sie dem Reiz des Abenteuers. Während ihrer Ausbildung unterstand sie direkt Walter Nicolai, der ihr auch die Anweisung gegeben hatte, nach der Entführung von Mrs. Churchill in England zu bleiben, eine Stellung zu finden, die sie mit Heeresoder Marineangehörigen zusammenbrachte, und Informationen zu sammeln. Keine schwierige Aufgabe für eine Frau mit ihrem Aussehen und ihren Fähigkeiten. Man hatte sie mit einer Menge technischer Hilfsmittel für Nachrichtenübermittlung ausgestattet, und sie kannte viele Namen von wichtigen Leuten im deutschen Geheimdienst. Auch hatte sie interne Kenntnisse, wie diese Dienststelle funktionierte. Sie konnte zweifellos mit großem Nutzen als Doppelagentin in England eingesetzt werden.
«Fühlen Sie sich Deutschland gegenüber zu absoluter Treue verpflichtet?» fragte Charles.
Sie sagte, ohne zu zögern: «Seit sie mich nach England geschickt haben, fühle ich mich wie in einer Falle. Offen gesagt, Mr. Rathbone, bis ich hier ankam, habe ich das alles wie eine Art Spiel betrachtet. Völlig unwirklich. Aber seit ich eingeflogen worden bin, gab es viele Momente, wo ich in Versuchung war, einfach aufs nächste Polizeirevier zu laufen. Aber ich hatte Angst, daß sie mich einsperren würden, und noch mehr Angst, was meine deutschen Vorgesetzten mit mir machen würden, wenn sie herausfänden, daß ich sie verraten habe.» Sie unterdrückte ein Schluchzen. «Ich fühle mich mehr englisch als deutsch. Ich schwöre bei Gott, das ist die Wahrheit. Und es ist auch verständlich. Die einzigen Verwandten, die ich habe, leben in England.» Sie erwähnte eine Tante in Coventry und eine andere Tante und einen Onkel in London. «Mr. Rathbone, ich bin Engländerin. Und ich bin beschämt über das, was ich getan habe.»
Wood, Partridge und die anderen kehrten in der Morgendämmerung ins Revier zurück. Sklave hatte offensichtlich das U-Boot gewarnt. Sie hatten es sogar ungefähr einen Kilometer vor der Küste auftauchen gesehen. Wood hatte befohlen, Sklave zu verhaften, doch der hatte einen Revolver gezogen und geschossen. Zwei Kugeln, von Wood persönlich
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