Eine ehrbare Familie
einem Moment antwortete sie im halben Flüsterton: «Madeline Letitia Drew.»
«Adresse?»
«Chelsea Mansions 35, London.»
«Beruf?»
«Ich bin Gouvernante bei Mr. und Mrs. Hartney. Sie haben einen Sohn und eine Tochter und wohnen in Chelsea Mansions 35.»
Charles vermutete, daß sie hoffte, ihre Geschichte würde eine Zeitlang standhalten. Brian Wood hatte die Adresse überprüft. Die Hartneys wohnten in Chelsea Mansions 35, und sie hatten eine Gouvernante, die aber nicht Miss Drew hieß.
Er reichte ihr ein amtliches Formular über den Tisch und bat sie, es zu unterzeichnen. Es war eine Bestätigung, daß ihre Angaben der Wahrheit entsprachen. Sie setzte mit ruhiger Hand ihren Namen darunter.
Er nahm das Stück Papier zurück, sah ihr in die Augen und zerriß es wortlos. Dann wandte er sich an Dobbs und die Polizeibeamtin mit der Bitte, das Zimmer zu verlassen.
Erst nachdem die beiden Beamten gegangen waren, hatte er den Eindruck, daß die junge Frau an Sicherheit verlor. Ihre Augen verrieten ein leichtes Mißbehagen, ihre Haltung verkrampfte sich.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und musterte sie scharf. «Miss Drew, ich habe das Formular zerrissen, weil ich Ihnen helfen möchte. Würde ich es der zuständigen Stelle vorlegen, zusammen mit dem anderen Beweismaterial, würden Sie zweifellos in kürzester Zeit erhängt oder erschossen werden.»
Er gab ihr eine kurze Zusammenfassung der Tatbestände: ihre von der Polizei beobachtete Ankunft mit dem Flugzeug; ihre Verbindung zu Sklave; ihre Überwachung; seine Kenntnis des Plans, Mrs. Churchill zu entführen; die Dinge, die er im Beutel gefunden hatte; die Tatsache, daß sie nicht die Miss Drew sei, die bei den Hartneys arbeitete.
Als er seine Aufzählung beendet hatte, konnte sie ihm nicht in die Augen sehen.
«Vermutlich wartet Sklave auf ein Unterseeboot, nicht wahr?»
Sie saß mit gesenktem Kopf vor ihm, die Hände hielt sie im Schoß verschränkt. Charles zählte bis dreißig, bevor er weitersprach. «Sie brauchen mir nicht zu antworten. Polizei und Militär sind am Strand, um ihn abzufangen. Er wurde schon, bevor man Sie einflog, überwacht. Sie werden ihn erwischen, tot oder lebendig, bevor die Nacht vorbei ist. Und das ist der Grund, warum ich Ihnen eine Chance gebe. Glauben Sie mir, wir sind genauestens über alles unterrichtet. Aber wenn Sie weiterhin auf Ihren Lügen bestehen, dann kann ich Ihnen leider nicht helfen. Seien Sie also vernünftig, und sagen Sie mir die volle Wahrheit. Ich verspreche Ihnen, daß Ihnen nichts passiert.»
Sie schwieg und rührte sich nicht. Charles erhob sich. Kurz vor der Tür drehte er sich noch einmal um.
«Die nächsten Leute, die Sie verhören, werden nicht so freundlich mit Ihnen umgehen. Ich rate Ihnen daher an, mit mir zusammenzuarbeiten. Erzählen Sie mir alles, aber es muß sofort sein.»
Er dachte, er sei gescheitert. Er hielt schon die Türklinke in der Hand, als sie mit leiser Stimme sagte: «Wie soll ich wissen...?»
Er schüttelte den Kopf. «Daß ich mein Versprechen halte? Das können Sie nicht wissen. Sie müssen mir vertrauen. Es ist jetzt nach Mitternacht, zu spät, um Sklave zu warnen. Sagen Sie mir die Wahrheit, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich alles tun werde, Ihnen zu helfen.»
Eine Minute schien so lang wie eine Ewigkeit. Dann brach sie zusammen. Tränen strömten über ihr Gesicht. «Gott, hilf mir», schluchzte sie. «Ich werde Ihnen alles sagen.»
Charles atmete erleichtert auf. Sein Plan war gelungen. Im stillen dankte er seinem Onkel Giles, daß er ihn für diese Mission empfohlen hatte.
Sie fing an zu reden, aber so schnell, daß Charles sie unterbrechen mußte: «Wenn Sie mir wirklich alles erzählen wollen, müssen Sie mir genaue Einzelheiten über die augenblickliche Situation hier in Cromer berichten. Wenn Sie darüber die Wahrheit sagen, wissen wir, daß wir Ihnen vertrauen können.»
Er wußte, es würde eine lange Nacht werden. Sollte sie beschlossen haben, wirklich alles zu erzählen, würde sie zuerst die wichtigsten Dinge hervorsprudeln. Und danach müßte er in mühsamer Kleinarbeit alle Einzelheiten aus ihr herausholen, einige vermutlich sogar herausquetschen, denn nach der ersten Beichte würden Schuldgefühle folgen.
Während er ihr zuhörte, merkte er, daß er von der jungen Frau bereits sehr eingenommen war. Seit der Geburt ihres letzten Kindes hatte er sich innerlich von Mildred entfernt und geglaubt, daß alle Begierde in ihm gestorben war. Aber
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