Eine ehrbare Familie
sich noch vor wenigen Jahren für einen glücklichen Mann gehalten hatte, ging durch eine kritische Phase. Die Verletzungen von Caspar hatten ihn tief deprimiert und ernüchternd auf ihn gewirkt. Nur seine vielfältigen Aufgaben in der Admiralität bewahrten ihn davor, seine Gereiztheit auch äußerlich zu zeigen.
Seit seiner Kindheit liebte er das Meer und alles, was damit verbunden war; sein langer Turnus zu Land hatte ihn verdrossen, und einige Monate vor Kriegsausbruch hatte er dem Direktor der Marine-Informationsdivision ständig in den Ohren gelegen, man möge ihm doch endlich ein Schiffskommando geben.
Aber der streng blickende, bärtige Admiral hatte ihn gebeten abzuwarten. «Fahren Sie fort, Informationen über Codes, Chiffren und drahtlose Telegrafie einzuholen, Railton. Sie werden erst wieder zur See fahren, wenn ihre Lordschaften es für richtig halten.»
Andrew gehorchte den Befehlen, schrieb seine Berichte und führte ein zufriedenstellendes Privatleben. Nur die Tatsache, daß seine vielseitigen Anregungen niemand zum Handeln zu veranlassen schienen, machte ihn allmählich wütend. Andrew fühlte sich abgestellt. Er fand sich mehr für den aktiven Dienst als für Schreibtischarbeiten geeignet. Sein Berufsleben langweilte und irritierte ihn - ein ewiges Karussell von Formularen, Briefen und Berichten.
Aber dann änderte der Wind seine Richtung, und das Leben wurde wieder erfüllt und interessant. Ungefähr eine Woche nach der Kriegserklärung wurde Andrew durch einen Boten ins Büro seines Vorgesetzten bestellt. Dort fand er seinen Chef in ein Gespräch vertieft vor mit einem grauhaarigen, klug aussehenden Mann, der sehr elegant gekleidet war.
«Kommandeur Railton, ich möchte Sie mit dem Direktor der Marine-Ausbildung, Sir Alfred Ewing, bekannt machen», sagte der DID. «Alfred, das ist der Offizier, von dem ich sprach.»
«Freut mich, Sie kennenzulernen, Railton.» Andrew hatte das unbehagliche Gefühl, von einer bemerkenswerten intellektuellen Autorität abgeschätzt zu werden. Eine Sekunde lang stieg ihm der Geruch von Kreide und kalt-feuchten Schulzimmern aus alten Zeiten wieder in die Nase.
«Wie ich verstehe, stellen Sie Untersuchungen über Codes und Chiffren an.» Alfred Ewing lächelte.
«Speziell, was Nachrichten für Militär und Marine betrifft, die über drahtlose Telegrafie gesandt werden.»
Ewing nickte. «Erzählen Sie mir mehr darüber.»
Andrew begann eine Art grundlegende Vorlesung über Codes. Er fing bei den ägyptischen Hieroglyphen an, dann ging er zu den chinesischen Methoden aus dem II. Jahrhundert über, die Schlüsselwörter in Gedichte eingeflochten hatten. Er erwärmte sich sichtlich für sein Thema. «Und dann nicht zu vergessen die biblischen Chiffren...»
«Ja, ja.» Ewing winkte ungeduldig ab. «Darüber weiß ich Bescheid. Aber was ist mit den modernen Codes und Chiffren? Kennen Sie das Quellenmaterial? Können Sie mir da Hinweise geben?»
Andrew erklärte, im Britischen Museum gebe es genug Material, um einen Mann ein Leben lang zu beschäftigen, ganz zu schweigen von Lloyds und dem Zentralpostamt.
Der DID schaltete sich ein. «Sir Alfred plant, hier in der Admiralität eine Abteilung aufzubauen, die sich ausschließlich mit dem Dechiffrieren feindlicher Nachrichten beschäftigt. Eine Sache, die Ihnen, Railton, wie ich weiß, besonders am Herzen liegt. Sie könnten Sir Alfred zeigen, wo die Informationen zu finden sind. Und Sie werden der Verbindungsmann zwischen der neuen Abteilung und mir sein.»
Während der nächsten Wochen verbrachte Andrew fast seine ganze Zeit mit Sir Alfred. Gemeinsam wälzten sie staubige Bücher im Britischen Museum, studierten Handelschiffren bei Lloyds und im Zentralpostamt, prüften die neuesten Chiffreabbildungen bei der Marconi-Company. Bald brauchten sie mehr Leute und mehr Platz, und schließlich wurde der neuen Abteilung ein Büro zugewiesen: Zimmer 40 im alten Gebäudeteil der Admiralität. Zimmer 40 wurde zu einem wichtigen Faktor in der geheimen Kriegführung.
Gegen Ende Oktober begann Andrew, sich über Rupert Sorgen zu machen. Obwohl er seine Tage mit Mathematikern verbrachte, die an der Entschlüsselung von Codes herumtüftelten, hörte er doch noch mancherlei aus der Admiralität. Und so vernahm er mit größter Besorgnis, daß die Streitkräfte von Admiral Cradock den Befehl bekommen hatten, das deutsche ostasiatische Geschwader aufzustöbern.
Er teilte seine Ängste Charlotte nicht mit, die bereits über
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