Eine eigene Frau
wurden sie von ihr durch einen Reißverschluss ersetzt, obwohl ich wusste, dass sie gerade das Einnähen von Reißverschlüssen für eine besonders fiese Arbeit hielt.
Während ich Arvis Kammer ausräumte, spürte ich einen Stich Wehmut. Bestimmt waren viele der mehrmals geflickten Kleidungsstücke in den späten Abendstunden entstanden, in denen ich bis in den Schlaf hinein das Tackern der Singer aus dem Wohnzimmer hörte. Zwei Pullover hob ich auf, einen marineblauen und einen grauen mit roten Stickereien. Ich war sicher, dass Mamu beide gestrickt hatte.
Als ich am Abend mein Bier trank und wartete, dass die überbackenen Toasts fertig wurden, ging ich ins Internet, um herauszufinden, wie man Thunfischlasagne machte. Das war eines der wenigen Gerichte, die meine Frau selbst kochte. Außerdem war es Jimis Lieblingsessen.
Beim Surfen dachte ich über Arvis Angst vor Knöpfen nach. Gab es irgendjemanden, der ebenfalls unter dieser Form der Verrücktheit litt?
Ich staunte, wie viele Treffer mir Google unter dem Stichwort Knopfphobie lieferte. Es gab sogar einen wissenschaftlichen Namen dafür, Koumpounophobie.
Obwohl mir von Kindheit an Arvis sonderbares Verhältnis zu Knöpfen bewusst war, kam ich nie auf den Gedanken, es könne sich um eine klassifizierte Erkrankung handeln, die man mit anderen Phobien gleichsetzen konnte, etwa vor Spinnen oder Wespen. Oder mit meiner Höhenangst, die mir früher bestimmte Maurerarbeiten schwer und zum Teil sogar unmöglich gemacht hatte.
Aus den Internetforen ging hervor, dass es sich bei der Knopfphobie um ein erstaunlich weit verbreitetes Syndrom handelte, auch wenn diejenigen, die darunter litten, glaubten, sie seien einzigartig. Verständlicherweise wollten sich nur wenige zu so einer Angst bekennen. Verschlimmert wurde das Ganze dadurch, dass bei einigen Betroffenen allein das Aussprechen oder Hören der Bezeichnung des phobieauslösenden Gegenstands Panik verursachte. Auch das Schreiben von »Knopf« oder »Druckknopf« schien einigen Forumsteilnehmern so schlecht zu bekommen, dass sie sich bisweilen übergeben mussten.
Die Ängste schienen sich auf Knöpfe bestimmten Typs oder bestimmter Größe zu beziehen oder darauf, dass die Knöpfe geöffnet oder geschlossen wurden. Bei manchen löste das Geräusch von Druckknöpfen Beklemmungszustände aus. In den meisten Fällen hatte die Phobie schon in der Kindheit begonnen, oft um das siebte Lebensjahr herum. Viele beklagten die Schwierigkeit, mit Menschen zusammen zu sein, die Knöpfe an ihren Kleidern trugen.
Knopfphobiker versuchten sich und ihren Kindern nur Kleidungsstücke auszusuchen, die Reißverschlüsse oder andere Verschlüsse hatten. Berufe, bei denen Uniformen getragen wurden, kamen für die meisten überhaupt nicht in Frage. Wenn ein Knopfphobiker in der Nähe eines Knopfes Luft holte, hatte er das Gefühl, den Knopf einzuatmen. In der milderen Variante löste die Phobie Übelkeit und Erbrechen aus, bei Leuten mit schlimmeren Symptomen brach der kalte Schweiß aus, der Blutdruck sank, das Sehfeld verengte sich und das Auffassungsniveau sank. Die schlimmsten Reaktionen erinnerten an einen schweren Schock.
Eine schwere Knopfphobie war eine Krankheit mit ernsten physischen Symptomen, die beim Betroffenen die sozialen Beziehungen, das Selbstwertgefühl, ja das ganze Leben zerstören konnten. Das Zusammenwirken von körperlichen und psychischen Symptomen konnte einen Patienten für immer invalidisieren.
Im Lichte dessen, was ich da las, kam mir das Einsiedlerleben von Arvi Malmberg allmählich sehr verständlich vor. Ein Mann namens Whitcomb Judson hatte bereits 1891 den Reißverschluss erfunden. Dessen Bedeutung wurde jedoch erst 1918 erkannt, als die Marine der Vereinigten Staaten für Fliegeroveralls Reißverschlüsse benutzte. Langsam gelangte die Erfindung dann auch in den zivilen Gebrauch. Arvis Leben konnte sie noch lange nicht erleichtern.
Ich nahm die Toasts aus dem Ofen und machte eine Flasche Rotwein auf. Den Korken warf ich in den Mülleimer. Es bestand kein Zweifel, dass ich die Flasche an diesem Abend leeren würde. Die Pullover, die ich mir genommen hatte, lagen neben mir auf dem ausziehbaren Bett. Ich strich mit der Hand darüber und fuhr mir wohl auch mit der Wolle über die Wange. Wieder einmal wurde ich daran erinnert, was für ein großer Teil der Welt meiner Großeltern mir verborgen geblieben war, bloß weil ich eingewilligt hatte, Mamu in ihren letzten Lebensjahren auf so erbärmliche Weise
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