Eine eigene Frau
läuft sie am liebsten barfuß. Für den Ausflug musste sie allerdings Schuhe anziehen, mit dem Ergebnis, dass sich Saida neben den anderen Frauen wie eine Riesin fühlt. Vor allem wenn der Umstand auch noch ohne jedes Feingefühl laut ausgesprochen wird.
»Wie geht es der Frau Mama denn so?«
»Danke der Nachfrage, sehr gut.«
Saidas Tonfall ist aristokratisch eisig.
Sakari lacht laut auf und schüttelt den Kopf.
»Hör dir das Mädchen an, Frau, das nenne ich eine gute Kinderstube.«
Seelia runzelt die Brauen, aber ihr Mann schenkt ihr keine Beachtung, sondern macht mit seinem Lobpreis weiter, wie sehr die schönen Töchter vom Harjula sich in jeder Hinsicht von den gewöhnlichen Trampeltieren im Dorf unterscheiden. Er wagt sogar die Vermutung, dass seine eigenen sturen Bälger nie so gute Manieren haben werden.
Saida glaubt, von Sakari wegen ihres übertrieben vornehmen Gehabes aufgezogen zu werden. Schließlich wissen ja alle, dass man im Dorf lange suchen muss, um einen Vater zu finden, der stolzer auf seine Töchter ist. Für Seelia scheint die Grenze des Erträglichen nun jedoch überschritten zu sein.
»Aha, aber wie soll ich sie auch erziehen, wenn ich sie nicht mal anfassen darf?«
Mit feuchten Augen lässt sie laut ihrer Verzweiflung freien Lauf und klagt darüber, dass sie ihr kleines Mädchen nicht mehr im Arm halten und sich dem Jungen nicht auf mehr als einen Meter nähern darf. Viki könnte genauso gut bei seinem Namensvetter in Amerika sein. Ein Meter oder 4000 Kilometer, das ist dasselbe, wenn man sein Kind nicht anfassen darf, wenn es einem einfach verboten ist! Wie soll man da anständige Menschen aus ihnen machen!
»Na, na, nun heul doch nicht, Frau, ich hab ja nur einen Scherz gemacht.«
Sakari scheint echte Reue zu zeigen.
Aber nein, Seelia akzeptiert keinen Rückzieher. Ihr Mann hat recht. Als Mutter taugt sie eindeutig nicht mehr, sie bietet nur noch Grund zum Lachen. Und warum auch nicht. An einer so miserablen Mutter findet man ja auch viel Lächerliches, dumm und leichtgläubig wie sie ist. Aber bald ist man sie ja los.
Ihr Mann starrt sie fassungslos an. Auf ihren Wangen glühen rote Flecken, die Augen sind feucht und rot, und eine Tränenbahn rinnt an der Nasenwurzel entlang.
»Wer hat dir verboten, die Kinder anzufassen?«, murmelt Sakari.
»Die Zeitungen. Die Ärzte.«
»Muss man die lesen? Und muss man unbedingt glauben, was da drinsteht?«, sagt Sakari. Außerdem ist Seelia, soweit er weiß, von keinem einzigen Arzt irgendetwas untersagt worden.
»Nein, weil ich nicht beim Arzt war. Aber die Frau Jonsson weiß Bescheid.«
»Das ist doch die reinste Hexendoktorin«, sagt Sakari düster, richtet den Blick jedoch an seiner Frau vorbei aufs Meer.
»Joel Tammisto und Hilma Lindroos haben jetzt auch das Aufgebot bestellt«, sagt Saida, um die peinliche Situation zu retten.
»Da war es auch Zeit, da war es auch Zeit.«
Dankbar greift Sakari nach dem Rettungsseil, das Saida ihm hinhält, und sagt, seiner Meinung nach sei ein Mann ohne Frau wie ein Schiff ohne Pinne. Oder wie ein Haus ohne Rückwand. Wenn das einer wisse, dann er, Sakari. Ohne Pinne ginge allerdings noch, solange das Ruder vorhanden sei und sich drehe …
»Kannst du endlich mal den Mund halten!«, schreit Seelia.
Ihr Mann verstummt. Er steht neben seiner gekrümmten Frau, die sich von ihm abgewandt hat, und klopft ihr hilflos auf die Schulter.
Saida findet Sakaris unbeholfenen Wiedergutmachungsversuch rührend. Doch bei Seelia, die sich noch immer das Taschentuch ans Auge hält, verfehlt er seine Wirkung. Sakari tut Saida leid. Sicherlich würde er sich wünschen, seine Frau könnte wenigstens einen Sommertag lang ein bisschen fröhlich sein und ihren Kummer vergessen, auch wenn sie noch so krank ist.
Rücksichtsvoll entfernt sich Saida. Als sie die beiden aus der Ferne betrachtet, fällt ihr auf, dass Sakaris weißes Hemd feuchte Flecken unter den Armen hat. Aber sie merkt auch, wie das Hemd um seine breiten Schultern spannt und dass die bis zu den Ellenbogen aufgekrempelten Ärmel starke Unterarmmuskeln entblößen, die sich bewegen, als der Mann hilflos beide Hände hebt und sich mit allen Fingern durchs schwarze Haar fährt. Neben seiner von der Krankheit gezeichneten Frau strahlt Sakari auf geradezu schamlose Art Kraft und Gesundheit aus.
Bald macht der Kahn am Anleger fest, und die Leute gehen an Land. Saida möchte daran glauben, dass Seelia nicht sterben muss. So hat es auch Sakari gesagt.
Weitere Kostenlose Bücher