Eine eigene Frau
oder sich wegen ihres Vaters nicht traue, die Katharina in der Widerspenstigen zu spielen.
Saida schluckt. Ihr ist überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass Kustaa ihr die Hauptrolle anbieten könnte. Sie gesteht, dass sie von dem Stück absolut nichts versteht. Warum muss die Katharina zuerst so eine unmögliche Querulantin sein und sich dann allem fügen, wozu sie der schreckliche Petruccio zwingt?
Kustaa trocknet den Pinsel und setzt sich neben Saida. Ausführlich beschreibt er, wie er das Stück gelesen hat. Er sehe in der Widerspenstigen ein Kind, das sich nach Aufmerksamkeit sehne, das von klein auf um die Akzeptanz seines Vaters gerungen habe.
Das Schicksal der hitzigen Katharina bestehe schlicht und einfach darin, als Kind stets im Schatten der braven und äußerlich vielleicht gefälligeren Schwester gestanden zu haben. Der Vater habe der missachteten Tochter nur Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie einen lautstarken Wutanfall bekommen habe. Als hilfloser, weichlicher Mann, der den Streit fürchte, habe der Vater dann allen Forderungen nachgegeben, um seine Ruhe zu haben. Und das Mädchen habe diese Trostpreise zwar als dünnen Ersatz für die Liebe des Vaters angenommen, doch sei sie dabei zugleich zu einer wahrhaft unverschämten Person herangewachsen.
Kustaas Meinung nach könne man von der erwachsenen Widerspenstigen sagen, sie hasse und liebe ihren Vater zugleich, der Vater aber schere sich tief in seinem Inneren keinen Deut um seine Tochter, sondern fürchte und verabscheue sie nur. Und die arme Katharina wisse, dass die ganze Schmeichelei des Vaters nichts anderes sei als Getue, das aus purer Angst resultiere.
Saida hört erstaunt zu. Solche Worte hat sie noch nie zuvor aus irgendeinem Mund gehört. Hätte Kustaa nicht so einen riesigen Schädel, knochige Schultern und einen hervorstehenden Bauch, wäre er, abgesehen von seinen großen braunen Augen, nicht so ein durch und durch hässlicher Klotz von Mann, würde sie sich wahrscheinlich auf der Stelle in ihn verlieben.
Ihre Schwester, die vom Vater eindeutig bevorzugte, beneide Katharina aus gutem Grund zutiefst, findet Kustaa, liebe sie andererseits aber auch wie eine Mutter ihr Kind. Das beweise sie gerade dadurch, dass sie sich einverstanden erkläre, einen unbekannten Verrückten zu heiraten. Die Widerspenstige tut das, um dem Glück ihrer Schwester nicht im Weg zu stehen. Kustaa kann sich sehr gut vorstellen, wie das Mädchen mit seiner wilden Natur die Schwester mit erhobenen kleinen Fäusten vor dem Übel der Welt beschützt hat.
Katharina wirke wie eine Person, die vergleichsweise früh begriffen habe, dass Artigkeit in Wahrheit Schwäche sei. Wolle man ein guter Mensch sein, müsse man fester zupacken. Es verlange Mut. Und davon habe die Widerspenstige genug, wie aus dem Stück sehr gut hervorgehe. Im Namen der Gerechtigkeit müsse man sie eigentlich die Unbeugsame nennen.
»Stimmt«, sagt Saida und hält den Atem an.
Sie hat eine Gänsehaut bekommen, und es kribbelt in ihrem Nacken.
Genau, sagt Kustaa, und seine großen braunen Augen werden feucht. Auch ihm ist es gelungen, sich in einen Zustand tiefer Rührung hineinzusteigern, und nun unterstreicht er, was für ein gutes, außergewöhnliches Mädchen die Widerspenstige in ihrem tiefsten Innern ist und wie schmerzlich sie es erlebt, von klein auf ihrer Familie nur zur Last zu fallen, sodass Vater und Schwester sie schließlich loswerden wollen, um ihre eigenen, selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen.
Saida nickt vor sich hin, sagt aber, sie verstehe trotzdem nicht, warum die Widerspenstige dem Brauthandel zustimme.
Tja, meint Kustaa. Am Ende ist sie erstaunlich leicht bereit, das Opferlamm zu spielen. Freilich tue sie auch dies auf ihre scharfzüngige, laute Art. Aber sie opfere sich. Es sei klar, dass sie sich natürlich zutiefst schäme für diesen Frauenhandel, der die Menschenwürde herabsetze, und für das drum herum errichtete Lügengebäude. Gerade das Lügen, die vorgespielte Elternliebe, sei der Gipfel der Ungerechtigkeit des Vaters. Es sei der letzte bittere Kalk, den die tapfere Tochter schlucke.
Saida starrt Kustaa sprachlos an. Nichts dergleichen hat sie beim Lesen des Rollenhefts verstanden.
Kustaa setzt die Brille ab und wischt sie am Hemd trocken. Dann habe Saida sicher auch nicht begriffen, dass der schnöde Vater des Stücks bei umfassender Betrachtung das patriarchalische Bürgertum repräsentiere, für das alles nur Handelsware sei, auch die eigene
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