Eine Evatochter (German Edition)
harmlos wie eine erste Liebe. Es fand sich bald, daß die Gräfin einer zu großen Liebe schuldig war. Eine liebende Frau beantwortet alles mit einer Freude, einem Geständnis oder einem Vergnügen. Als die Gräfin dies gewaltige Lebensbild vor sich aufgerollt sah, wurde sie von Bewunderung ergriffen. Sie hatte Nathan sehr groß gemacht, sie fand ihn erhaben. Sie klagte sich an, ihn zu sehr zu lieben, bat ihn, nur zu kommen, wenn er Zeit hätte, erniedrigte dies Ringen der Ehrsucht durch einen Blick gen Himmel. Sie wollte also warten! Künftig wollte sie ihre Freuden opfern. Sie hatte nur ein Sprungbrett sein wollen und war ein Hindernis! ... Sie weinte vor Verzweiflung.
»Die Frauen«, sagte sie mit Tränen in den Augen, »haben also nichts als die Liebe. Die Männer haben tausend Möglichkeiten zu handeln. Wir Frauen können nur denken, beten, anbeten.«
Soviel Liebe erheischte Lohn. Wie eine Nachtigall, die von einem Zweige zur Quelle herabhüpfen will, blickte sie sich um, ob sie allein in der Einsamkeit war, ob die Stille keinen Zeugen verbarg. Dann blickte sie zu Raoul auf, der sich niederbeugte, und erlaubte ihm einen Kuß, den ersten, einzigen, den sie heimlich geben durfte. In diesem Augenblick fühlte sie sich glücklicher, als sie in fünf Jahren gewesen war. Raoul fühlte alle seine Mühen bezahlt. Beide gingen, ohne recht zu wissen, wohin, auf dem Weg von Auteuil nach Boulogne. Sie mußten umkehren, um wieder zu ihren Wagen zu gelangen. Sie gingen in dem wiegenden Gleichschritt, den die Liebenden kennen. Raoul glaubte an diesen Kuß, den sie mit der sittsamen Freiwilligkeit gegeben hatte, die die Heiligkeit des Gefühls verleiht. Alles Böse kam von der Welt und nicht von dieser Frau, die so ganz die Seine war. Raoul bereute die Qualen seines gehetzten Lebens nicht mehr; Marie mußte sie in der Glut ihres ersten Verlangens vergessen, wie alle Frauen, denen die schrecklichen Kämpfe solcher Ausnahmeexistenzen nicht jederzeit vor Augen stehen. Im Bann dieser dankbaren Bewunderung, die die Leidenschaft der Frau auszeichnet, ging Marie festen, leichten Schrittes über den feinen Sand einer Querallee. Beide sprachen wenig, aber was sie sagten, war tief gefühlt und zutreffend. Der Himmel war rein, die hohen Bäume knospten. Einige grüne Spitzen belebten bereits ihre braunen Rutenbündel. Die Sträucher, die Birken, die Weiden und Pappeln zeigten bereits ihr erstes, zartes, noch durchsichtiges Blattwerk. Keine Seele widersteht solchen Harmonien. Die Liebe erklärte der Gräfin die Natur, wie sie ihr die Gesellschaft erklärt hatte.
»Ich wollte, du hättest immer nur mich geliebt!« sagte sie.
»Dein Wunsch ist erfüllt,« entgegnete Raoul. »Wir haben einander die wahre Liebe offenbart.«
Er sagte die Wahrheit. Indem Raoul sich vor diesem jungen Herzen als reiner Mann hinstellte, hatte er sich von seinen eignen, mit schönen Gefühlen verbrämten Phrasen gefangennehmen lassen. Seine anfangs rein auf Berechnung und Eitelkeit fußende Leidenschaft war ehrlich geworden. Mit der Lüge hatte er begonnen, um mit der Wahrheit zu enden. Überdies lebt in jedem Schriftsteller ein schwer unterdrückbares Gefühl, das ihn zur Bewunderung der inneren Schönheit treibt. Kurz, je mehr Opfer ein Mann bringt, desto mehr Anteil nimmt er an dem Wesen, das diese Opfer erheischt. Die Weltdamen fühlen diese Wahrheit instinktiv, so gut wie die Kurtisanen; vielleicht wenden sie sie sogar unbewußt an. So ging es auch der Gräfin. Nach der ersten Wallung der Dankbarkeit und Überraschung war sie bezaubert, daß er für sie so viel Opfer gebracht, so viele Schwierigkeiten überwunden hatte. Der Mann, den sie liebte, war ihrer Liebe würdig. Raoul wußte nicht, wozu ihn seine falsche Größe noch verpflichten sollte; denn die Frauen gestatten ihren Liebhabern nicht, von ihrem Sockel herabzusteigen. Einem Gotte wird auch die kleinste Schwäche nicht verziehen. Marie kannte des Rätsels Lösung nicht, die Raoul seinen Freunden bei dem Souper bei Véry offenbart hatte. Der Kampf dieses Schriftstellers aus den unteren Volksschichten hatte die ersten zehn Jahre seiner Jugend erfüllt; er wollte von einer der Königinnen der schönen Welt geliebt sein. Die Eitelkeit, ohne die die Liebe nach Chamforts Wort sehr schwach ist, nährte seine Leidenschaft und mußte sie von Tag zu Tag steigern.
»Kannst du mir schwören,« fragte Marie, »daß du keiner andern angehörst und nie angehören wirst?«
»In meinem Leben wäre kein Raum für
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