Eine Familie für Julianne
…“ Sie reichte ihm Pippa. „Dann bin ich zuerst dran. Wahrscheinlich brauche ich nämlich etwas länger als Sie.“
„Wir gehen doch nur zum Italiener“, rief er ihr nach, als sie in ihrem Zimmer verschwand. Dann schaute er auf seine Tochter hinunter, die fasziniert ein Bild an der Wand betrachtete, und dachte: Du solltest wirklich öfter lachen.
Und damit meinte er nicht Pippa.
6. KAPITEL
Unglaublich, wie lange ich nicht in einem Restaurant war, dachte Julianne, als sie die Speisekarte zum zweiten Mal durchlas.
„Es ist nett hier“, sagte Kevin, den Blick auf den großen Flachbildschirm über der Bar gerichtet. Aber sie waren ja auch nicht auf einem Date. Sondern nur zwei Leute, die keine Lust zum Kochen hatten.
Auch, wenn einer der beiden eine Dreiviertelstunde im Bad verbracht hatte, um sich „zurechtzumachen“.
„Ich hatte gehofft, dass es noch so ist wie früher. Das letzte Mal, als ich hier war, bin ich noch zur Highschool gegangen.“
Kevin grinste. „Dann sind Sie mit Ihren Freundinnen hergekommen, um Jungs aufzureißen, oder wie?“
„Nein“, sagte sie und legte die Serviette über den Schoß. „Die Jungs haben uns hierher eingeladen. Hauptsächlich deswegen.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Bildschirm.
„Ach so. Haben Sie was gefunden?“ Als sie nickte, winkte er die Bedienung heran. „Aber das sind die Sox da oben.“
„Ach ja?“
„Ja“, erwiderte er. „Springfield, wo ich herkomme, ist nicht weit von Boston entfernt. Aber keine Sorge, ich werde Sie nicht ignorieren. Oder dich“, sagte er zu Pippa, deren Kindersitz neben ihm auf der Bank stand. Julianne konnte nur ab und zu einen kleinen Fuß sehen, wenn sie strampelte. Doch als Kevin sie am Bauch kitzelte, ließ Pippa ein Jauchzen hören, und Julianne lächelte.
„Meine Mutter hat uns von klein auf ganz klare Regeln beigebracht, was Sport im Fernsehen angeht: Man vertieft sich nicht so ins Spiel, dass man alles andere um sich herum vergisst – es sei denn, alle anderen im Raum schauen auch zu. Dann ist es in Ordnung“, erzählte er charmant grinsend.
Als die junge Kellnerin an ihren Tisch trat, ließ Kevin Julianne den Vortritt. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte: „Die Scampi, dazu einen kleinen Salat. Essig und Öl bitte extra.“
„Und Sie?“, fragte die Kellnerin.
Julianne blickte auf und bemerkte, dass Kevin sie seltsam ansah. „Äh, Moment“, stotterte er und schaute hastig in die Karte, bevor er seine Bestellung aufgab.
Nachdem die Kellnerin gegangen war, lehnte sich Julianne zufrieden zurück und schloss die Augen. „Das war eine gute Idee“, sagte sie.
„Und dabei haben wir noch gar nicht gegessen.“
„Mmm. Ich fühle mich fast so wie früher, als ich noch kein Trauerkloß war.“
„Halten Sie sich denn für einen?“
Sie öffnete ein Auge. „Sie mich nicht?“
„Na ja, ein Partylöwe sind Sie nicht gerade, aber Trauerkloß? Nein.“
„Danke“, erwiderte Julianne und schloss die Augen wieder. „Aber früher war ich mal richtig unterhaltsam.“
„Irgendwie kann ich Sie mir nicht außer Rand und Band vorstellen.“
„Ich habe ja auch nicht wild gesagt, sondern unterhaltsam.“
„Gibt’s da einen Unterschied?“
Er hat eine schöne Stimme, dachte Julianne. Beruhigend. Freundlich. Sie versuchte zu vergessen, dass er der Freund ihrer Schwester gewesen war.
„Ich denke schon.“
„Vermissen Sie es?“
Sie dachte nach. „Ich vermisse, wer ich früher war.“
Danach schwieg Kevin so lange, dass Julianne beinahe einschlief. Sie atmete ein paarmal tief durch, um wieder wach zu werden, öffnete die Augen und strich sich das Haar aus dem Gesicht, woraufhin Kevin sie wieder so seltsam ansah.
„Sie sehen heute Abend wirklich toll aus“, sagte er, und erst da ging ihr auf, was der Blick zu bedeuten hatte. Herrje, sie war wirklich zu müde. Oder aus der Übung.
Julianne setzte sich gerade hin und griff nach dem frisch gebackenen, noch warmen Brot, brach ein Stück ab und tunkte es in den Dip.
Na gut, sie hatte zur Feier des Tages Make-up aufgelegt und das pfirsichfarbene, ärmellose Leinentop angezogen, das sie noch nie getragen hatte. Dann hatte sie sich die Haare mit dem Lockenstab gewellt und sogar die kleinen Diamantohrringe angelegt, die Dad ihr zum College-Abschluss geschenkt hatte, aber …
… sollte sie sich nun geschmeichelt fühlen oder Angst bekommen?
„Wirklich?“, fragte sie.
„Ja. Fragen Sie doch den Typ da drüben, der Sie schon die ganze
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